Intuition als therapeutische Ressource
Eckhard Schiffer, Quakenbrück
Referat auf der 88. wissenschaftlichen Jahrestagung des Bundesverbandes
für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. 13./14. März 2002 in Berlin:
"Standard und Intuition - Leitlinien in der Suchttherapie"
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
die Schwierigkeit meines Themas besteht darin, das, was sich im Grunde nicht begrifflich darstellen läßt, auf den Begriff zu bringen.
Ich bitte daher, was den Zuhörspaß im ersten Teil meines Referates angeht, um etwas Kredit. Zu Beginn werde ich mich von Kant ausgehend mit der Erkenntnistheorie beschäftigen. Es folgt Therapietheorie, insbesondere im Hinblick auf die Ergebnisse der empirischen Säuglingsforschung. Und zum Schluß stelle ich Ihnen zum Thema einen eigenen Fall vor.
Intuition ist aus dem lateinischen Deponens intueri, intueor, intuitus sum abgeleitet: ansehen, hinschauen, betrachten. Die meistgebräuchliche Übersetzung ist: Anschauung, dann aber auch eingebungsartiges Schauen, ahnungsvolles Erfassen, unmittelbares, "ganzheitliches" Erleben der Wirklichkeit.
Die philosophisch-anthropologische Begriffsgeschichte von Anschauung ist zweieinhalb Jahrtausende alt und spiegelt sich in dem Bedeutungswandel und Bedeutungshof des Begriffes. Bei den Griechen hieß eine Anschauungsweise "theoria": "Wir vermögen das Seiende nur deshalb zu erkennen, weil es sich von sich selbst her zeigt. Deshalb heißt 'Theorie' bei den Griechen: Das reine Schauen dessen, was wahrhaft ist; und in diesem Schauen haben wir das Wissen." (Picht, 1985).
Heute wird Anschauung als Intuition weitgehend im Kantischen Zuschnitt verstanden, und zwar insbesondere in Unterscheidung vom Begriff.
Diese Kantische Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung hat bis in die Gegenwart hinein auch unser wissenschaftliches Denken bestimmt. In seiner Definition vom Begriff hat Kant eine Umschichtung in dem bis dahin gültigen und von Aristoteles geprägten Verhältnis von Begriff und Anschauung vorgenommen: Das, was sich in der aristotelischen Lehre vom "eidos" als das gleichbleibend Wesenhafte zeigt, wurde von Kant zum Begriff geschlagen. Gleichzeitig wurden die Prädikate, die das Wandelbare, die Veränderung anzeigen, bei Kant auf die Seite der Anschauung gestellt. Unter diesem Gesichtswinkel erscheint die gegenwärtige Polarität von Leitlinien und Intuition als Variante einer zweieinhalbtausend Jahre alten Problematik
Der Begriff ist bei Kant das Wesentliche, Unveränderbare, das erst Erkenntnis ermöglicht. Erkenntnis wird nach Kant begrifflich-diskursiv und nicht durch Anschauung gewonnen. Diese schroffe Definition provozierte in der Folgezeit Gegenbewegungen - u.a. die (Jenaer) Romantik. Die schrecklichste Gegenbewegung war die Rede der Nationalsozialisten vom "zersetzenden Verstand".
Georg Picht (1969) weist darauf hin, daß Kants schroffe Definition aus der "Kritik der reinen Vernunft" später in der "Kritik der Urteilskraft" - als dem Höhepunkt und dem Schlußstein des Gebäudes von Kants gesamter Philosophie - von ihm selbst wieder in Frage gestellt erscheint. Wenn Kant seine Kritik der Urteilskraft radikal zu Ende gedacht hätte, so hätte diese "Kritik der schöpferischen Vernunft" heißen müssen.
Picht veranschaulicht dies an dem Intuitiv-Schöpferischen des Entwurfes, z.B. dem eines Hauses. Jedes Haus, nehmen wir als Beispiel das Hundertwasser-Haus in Wien, erscheint zunächst als Entwurf in der inneren Anschauung - gewissermaßen auf der "inneren Leinwand". In diese innere Anschauung wird der Entwurf von der produktiven Einbildungskraft, d.h. der Phantasie, eingespeist. Anschauung und Phantasie als produktive Einbildungskraft sind im Kantischen System eng miteinander verknüpft. Denn ich bekomme zuerst in der inneren Anschauung zu Gesicht, was die Phantasie mit ihrer Fähigkeit, etwas Neues hervorzubringen, entwirft.
Der Entwurf des Hauses, den wir in unserer inneren Anschauung wahrnehmen, setzt Kenntnisse über die Bedürfnisse und Bräuche seiner künftigen Bewohner, Kenntnisse der Gesellschaft, der diese Bewohner angehören, sowie deren Kulturstufe und politische Ordnung voraus, damit sich diese zukünftigen Bewohner des Hauses darin wohlfühlen, sich eben "zuhause fühlen". Jeder gelungene architektonische Entwurf zeigt, - so Picht (1969) - daß Vernunft und Intuition nicht voneinander zu trennen sind. Vernunft zeigt sich aber nicht nur im Technisch-Naturwissenschaftlichen. Dies zu meinen wäre sogar höchst unvernünftig. So wie es unvernünftig wäre, ein Haus zu bauen, das zwar der Statik genügt, aber nicht ermöglicht, daß die Bewohner sich darin wohlfühlen, wie aufs Technisch-Funktionale reduzierte Wohneinheiten zeigen: "Es ist also durchaus nicht eine Sache der Willkür und des freien Beliebens, wie unser produktives Vermögen die Modelle, die wir verwirklichen wollen, entwirft. Sie müssen im Zusammenhang der Welt, in die sie hingestellt werden, richtig 'sitzen'" (Picht 1969).
Die Vernunft, die in den schöpferischen Entwurf mit eingeht, ist also nicht nur begrifflich-diskursiv. Sie entspricht zugleich auch in vielem dem, was nachfolgend als "implizites Wissen" vorgestellt wird.
Daß die eben genannte schroffe Kantische Position nicht haltbar ist, zeigt allein schon unser täglicher Sprachgebrauch selbst: Wenn wir "im Bilde sind", dann haben wir etwas schon bestens verstanden, ohne es zwangsläufig "auf den Begriff gebracht" haben zu müssen. Wir können ohne begriffliche Interpretation - so Michael Brötje (2001) - ein Bild verstehen, wenn wir in dieses Bild "einsteigen", uns in diesem Bild bewegen. Wir sind dann im wortwörtlichen Sinne im Bilde. Daß wir uns "im Bild bewegen können", gründet in unserer prozeßorientierten affektusensomotorischer Erfahrung. Diese kann als sensorisch-reproduktive Einbildungskraft, d.h. (Phantasie), in unsere Intuition mit eingehen: Wenn wir von ferne jemanden in der Menge nur flüchtig sehen, dann können wir diesen dennoch an einer Geste oder seiner Gangart intuitiv als z.B. den Herrn Meyer erkennen. Unsere sensorische Erfahrung mit Herrn Meyer wird in unserer Anschauung, d.h. auf unserer inneren Leinwand, durch unsere sensorisch-reproduktive Ein-Bildungskraft (Phantasie) reaktualisiert und dadurch die gegenwärtige flüchtige Wahrnehmung vervollständigt, so daß wir zu der Erkenntnis kommen: dieser da ist Herr Meyer und kein anderer! Hierbei ist Intuition jedoch nicht nur im Zusammenhang mit optischen, sondern auch mit akustischen, taktilen und kinästhetischen Phänomenen zu verstehen. Zu der sensorisch-reproduktiven Phantasie gehört auch unser implizites Wissen, was unser (implizites) Beziehungswissen mit einschließt. Letzteres basiert gleichfalls auf unserer affektusensomotorischen Erfahrung und meint das, was in einem spezifischen Beziehungszusammenhang zu tun, zu denken und zu fühlen ist. "Dieses Wissen ist nicht bewußt (es ist (aber, E.S.) auch nicht im dynamischen Sinne unbewußt, es ist nicht verdrängt). Es operiert einfach außerhalb des Bewußtseins" - so Daniel Stern (2001) mit einer etwas robusten Definition.
"Viele von uns sind in der Regel außerstande, die individuellen Züge der engsten Freunde zu beschreiben, (...) aber diese Unfähigkeit beeinträchtigt keineswegs unseren Eindruck der Vertrautheit mit ihren Zügen, die wir aus tausend anderen herausfinden würden, weil wir auf ihren charakteristischen Ausdruck reagieren." (Gombrich 1977).
Implizites Wissen gibt es selbstverständlich nicht nur als Beziehungswissen, sondern auch als Erfahrungswissen aus der Begegnung mit der Ding-Welt.
Zu unterscheiden ist dieses implizite Wissen von dem sprachgebundenen expliziten Wissen. Ein zwölf Monate altes Kind kennt den Weg aus seinem Kinderzimmer zu der Keksdose im Küchenschrank, ohne dieses Weg - explizit - mit Worten beschreiben zu können oder auf eine begriffsgebundene Wegweisung angewiesen zu sein. Dieses implizite Wissen oder die unbewußt-reproduktive sensorische Phantasie liegt zu einem großen Teil dem erkennenden Moment der Intuition zugrunde und ermöglicht auch das, was bei Michael Balint (1994) "harmonische Verschränkung" heißt. Hierfür ein kleines Beispiel, das in seinen Grundzügen von Martin Dornes (1993) stammt: Der kleine Lukas, 13 Monate alt, sitzt in seinem Stühlchen gemeinsam mit den Eltern am Frühstückstisch und ist offensichtlich an dem Löffel interessiert, mit dem der Vater das Frühstücksei aufgeklopft hat. Der Vater erfaßt intuitiv das Interesse seines Sohnes und schiebt beiläufig den Löffel in seine Nähe, so daß der Lukas den Löffel greifen kann. Lukas nimmt den Löffel und klopft mit zunehmender Freude auf den Frühstückstisch, strahlt über das ganze Gesicht, ist ganz aufgeregt darüber, was für schöne Geräusche er nun produzieren kann. Die Eltern freuen sich mit, der Vater ergreift wiederum intuitiv einen anderen Löffel und klopft mit diesem - keinesfalls lauter - sachte auf seinen Tellerrand. Lukas stutzt, lacht und klopft seinerseits nun heftig auf seinen - schon leeren - Plastikteller.
In der Interaktion zwischen Vater und Sohn - die ein intuitives Erkenntnisver-mögen des Vaters erfordert - entfaltet sich auch das schöpferische Moment der Intuition. Dieses hat bei Lukas zunächst mit dem impliziten Wissen zu tun, daß es Spaß macht, etwas auszuprobieren und bei dem Vater mit dem impliziten Wissen, was seinem Sohn in dieser Situation gut tut. Die Handlungsentwürfe beider sind aufgrund dieses impliziten Wissens harmonisch miteinander verschränkt. Fehlte dem Vater grundsätzlich in dem kreativen Aspekt seiner Intuition das implizite Wissen, daß es besser ist, die eigene Improvisation leise darzubieten, um den Sohn nicht zu übertönen, resultierte dann auf Dauer das, was bei Balint (1994) Grundstörung oder bei Winnicott (1985) das falsche Selbst heißt.
Wesentlich ist für eine gelingende weitere Entwicklung des Kindes, daß in dem späteren Prozeß der Desillusionierung, in dem das Kind gewissermaßen aus der harmonischen Verschränkung herausgleitet und der intuitiv gesteuerten Hilfestellung der Eltern immer weniger bedarf, sich eben dieses Kind vermöge seiner eigenen Fähigkeiten - der "skills" - in seiner Welt zu organisieren weiß. Das heißt zugleich, daß das implizite Beziehungswissen durch das explizite Beziehungswissen immer mehr ergänzt wird. Hierfür ein Beispiel: Ein Kind, das beim Sonntagsspaziergang auf dem glitschigen Baumstamm nach anfänglicher Hilfestellung allein weiterbalancieren möchte, wird nicht nur unwillig die Hand, die von dem Vater festgehalten wird, zurückziehen, sondern gleichzeitig auch sagen: "alleine ...!" Aber vielleicht haben die Eltern ja schon vorher intuitiv erfaßt, daß sie jetzt loslassen sollten - auch auf die Gefahr hin, daß das Kind vom Baumstamm rutscht und sich Hände und Knie aufschlägt.
Kinder, die in einer Welt aufwachsen, in der ihre Bezugspersonen - Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten, die Erzieherinnen im Kindergarten und die Lehrerinnen in der Grundschule - intuitiv erfassen, was in dem Prozeß der Desillusionierung dem Kind gut tut, werden später nicht nur für ihre eigenen Kinder eine gute Intuition haben, sondern auch sich selbst gegenüber für das, was ihnen gut tut. Das Erproben von Fertigkeiten für die eigene Lebenskompetenz bedarf einer intuitiven Einstimmung, um Überforderung zu vermeiden, die nur entmutigt und zu introjekthaften Leistungsidealen, Selbstwertproblematiken, Geborgenheits- und Objektverlustängsten führt. Ebenso ist eine solche Wahrnehmung erforderlich, um Unterforderung zu vermeiden oder eine Überbehütung, die Autonomie- und Nähe-/Distanzproblematiken zur Folge haben mag. Natürlich sind wir als Therapeuten an derselben Stelle gefordert, intuitiv zu wissen, wann eine desillusionierende Konfrontation oder auch die Exposition im Rahmen einer Angsthierarchie ihre Zeit und ihren Ort haben. Unser therapeutisches Handeln als Gesamtentwurf wie auch mit seinen Zwischenentwürfen und Untergliederungen hat eine intuitiv erkennende wie auch intuitiv schöpferisch-entwerfende Komponente. Je mehr wir uns in den Prozeß hineinwagen, desto mehr sind wir auf unsere Intuition angewiesen, wenn die Therapie gelingen soll. Hierzu erzählt Michael Balint (1970) das schöne Beispiel vom Purzelbaum in der Therapiestunde: "Es war zu jener Zeit, als ich einmal die Deutung gab, es sei für sie (die Patientin, E. S.) sehr wichtig, immer den Kopf oben und die Füße fest auf den Erdboden zu behalten. Darauf erwähnte sie, daß sie es seit frühester Kindheit nie fertiggebracht habe, einen Purzelbaum zu schlagen, obwohl sie es oft versucht hatte und ganz verzweifelt war, wenn es nicht ging. Ich warf ein: "Na, und jetzt ?" - worauf sie von der Couch aufstand und zu ihrer eigenen größten Überraschung ohne weiteres auf dem Teppich einen tadellosen Purzelbaum schlug. Dies erwies sich als ein wahrer Durchbruch ..."
Wir sind also als Therapeuten auf intuitives Erkennen und auf intuitives spielerisch-schöpferisches Handeln auf der Grundlage unseres impliziten Wissens genauso wie Eltern angewiesen. Darauf zielt auch die Bemerkung Winnicotts (1979), daß ein Therapeut, der nicht spielen könne, für die Arbeit nicht geeignet sei und daß eine Psychotherapie erst beginnen könne, wenn der Patient in der Lage sei zu spielen. Das soll in dem schon angekündigten eigenen Fallbeispiel noch weiter verdeutlicht werden. Vorerst möchte ich jedoch darauf aufmerksam machen, daß diese Bemerkung Winnicotts durchaus eine rahmengebende, aber nicht detailfixierende Leitlinie darstellt.
Der Patient als "Kunstwerk"
Auf die Polarität von intuitivem und rational-diskursivem Erkennen in der Begegnung mit dem Patienten verweist auch Michael Balint (1976), wobei das intuitive Erfassen bei ihm "gefühlsmäßiges Verstehen" heißt. Mit sanfter Ironie verdeutlicht Balint diese Polarität an der Situation bei der Ankunft des ersten Kindes in einer Familie. "Das sollte doch ein einfaches, glückliches Ereignis sein, und doch ist es oft alles andere als das". Viele Eltern seien unfähig, allein mit einem so komplizierten und verwirrenden Ereignis fertig zu werden, sie holten sich dann Rat beim Arzt oder in Büchern, um ihr Kind zu verstehen. Dabei komme es oft vor, daß weder Arzt noch Bücher zu helfen scheinen, so daß die Eltern nur noch unsicherer würden: "Gewöhnlich glauben sie, es müßte für ihre Probleme unumwundene Antworten geben, sie zweifeln auch nicht daran, daß der Arzt und die Bücher diese Antwort wissen" - so Balint weiter.
Ähnlich wie den Eltern bei ihrem ersten Kind gehe es uns allen, wenn wir neuer Musik oder Dichtung begegneten oder ein Bild verstehen wollten, das beim ersten Anblick sinnlos und unverständlich erscheine. Auch hier könnten wir Hilfe suchen, indem wir mit Leuten sprechen, von denen wir meinen, daß sie etwas davon verstünden; oder Bücher darüber lesen. Aber: "Wirkliches Verständnis erwächst uns nur, wenn wir lernen, auf eine andere, neue Weise zu sehen (Hervorhebung durch E.S.) oder zuzuhören". Auf neue Weise zu sehen heißt, in der Anschauung das Wesentliche zu erfassen. Und damit sind wir wieder bei der Intuition. Diese neue Weise zu sehen gelingt, - so Balint (1976) - wenn wir uns z.B. bei einem uns unverständlichen Bild vorstellen, dessen Schöpfer zu sein, wir uns also vorstellen, dieses Bild entworfen und selbst gemalt zu haben. Wir können auf diese Weise auch bei einem ungegenständlichen Bild etwas von dem dynamischen Gleichgewicht zwischen Struktur und Chaos, Schwere und Leichtigkeit, Wärme und Kälte, Abdeckung und Transparenz oder sogar Ent-Deckung durch Verhüllung und vieles mehr erfahren. In dieser Identifizierung mit dem Schöpfer eines Bildes artikuliert sich unser prozeßorientiertes - affektusensomotrisches - implizites Wissen. Es zeigt sich die schöpferische Vernunft des Entwurfes (Picht 1969).
Michael Brötje (2001) beschreibt pointiert, wie eine Anschauung, die dem Begriff unterworfen ist, einem Kunstwerk gegenüber blind sei, da sie grundsätzlich die Ineinsbildung von Medium und Erscheinendem verfehle. Hierfür ein konkretes Beispiel: begrifflich können wir uns nicht klar machen, wie aus dem Medium Stein der uns so menschlich anrührende David von Michelangelo wird.
Das, was in der Ineinsbildung von Medium und Erscheinendem sich zeigt, ist der "Anteil des Beschauers" (Gombrich 1977), der durch das Medium aktiviert wird: "Wir neigen dazu, auf das festgehaltene Bild Leben und Ausdruck zu projizieren und aus unserer Erfahrung hinzuzufügen, was in Wirklichkeit fehlt" (Gombrich 1977).
Die wahrhaft erschließende Sinneseinlösung der künstlerischen Wirklichkeit erfolge nicht - so Brötje (2001) - im gewinnorientierten und begrifflich vermittelten Sammlungsvorgang ästhetischer Erfahrung, sondern einzig im Prozeß des seelischen Erlebens. Über Erfahrungen des Krieges, des Hungers, der Krankheit ließe sich wortgewaltig reden, ja unter Umständen - in gemütlicher Runde - auch plaudern, das Realerlebnis der Schlacht, des Bombenhagels, des Hungerns und des Krankseins kann nicht verbal vermittelt werden. Stets habe man bei dem Versuch, ein intensives Erlebnis zu beschreiben, das Gefühl, mit solcher Beschreibung das Erlebnis zu zerstören, es in seiner Wahrhaftigkeit zu verraten: "Das Erlebnis ist ein Akt der Identifikation des Ich mit der Situation". Die wortgebundene Erfahrung bringe eine Distanzierung von dem Kunstwerk.
Von dieser Identifizierung mit dem "Kunstwerk Patienten" spricht auch Balint (1976), jedoch sei es für den Therapeuten - im Unterschied zur oben genannten Mutter mit ihrem erstgeborenen Kind - wichtig, sich in einer zweiten Phase aus dieser Identifizierung mit dem Patienten zurückzunehmen, um zu dem begrifflich orientierten Wissenschaftler zu werden. Dieser zweiphasige Akt sei eines der Kennzeichen, wodurch sich professionelle von der familiären Beziehungsweise unterscheide. Der Therapeut wird so im zweiten Schritt zum Kunst-Sachverständigen. Erst das Erlebnis in der Identifizierung, dann die begriffliche Bearbeitung.
Die erste Phase der Identifizierung oder des intuitiven Verstehens stellt nach Balint eine wesentliche therapeutische Ressource dar. Beide - Patient und Therapeut - haben ein gemeinsames Erlebnis (!). Das Sichverstandenfühlen, das mit dem Imbildesein korrespondiert, birgt einen Moment der Beglückung und Ermutigung, ist beziehungsstiftend. Es stellt eine momentane Rückkehr, vielleicht sogar auch ein Ersterlebnis dessen dar, was die Aura der harmonischen Verschränkung ausmacht.
Eine unmittelbare Parallele - bezüglich intuitiver Prozesse - zwischen Eltern-Kind-Dyade und therapeutischer Dyade im Kontext impliziten Wissens sieht auch Daniel Stern (1998, 2001): So haben sich Daniel Stern und seine Arbeitsgruppe bemüht, den therapeutischen Veränderungsprozeß im Hinblick auf Veränderungen in der kindlichen Entwicklung zu konzipieren. Nach den daraus gewonnenen Erkenntnissen scheint sich der Mikroprozeß innerhalb einer therapeutischen Entwicklung in einer Art Improvisation zu vollziehen, in der kleine Schritte, die notwendig seien um ein Ziel zu erreiche, gar nicht voraussagbar seien. Auch sei das Ziel selbst oft nicht ganz klar, könne sich auch ohne Ankündigungen verändern, wie dies auch aus Beobachtungen der Eltern-Kind-Interaktion bekannt sei. In einer therapeutischen Sitzung gebe es wie in der spielerischen Beziehung zwischen Mutter und Kind ein "moving along", ein Miteinandersein, in dem bestimmte Spielregeln implizit verstanden würden. Aus dieser Situation heraus entstünden unvorhersehbare Momente, die ein Veränderungspotential enthielten. Diese Augenblicke oder Momente bezeichnet Stern als "now moments". Sie ließen sich als "emergente Eigenschaften eines komplexen dynamischen Systems" (Stern 2001) begreifen und stellten in einem gewissen Sinne nicht-lineare Sprünge im Spiel - oder Therapieprozeß dar.
"Wahrscheinlich war Balint von seiner Purzelbaum schlagenden Patientin selbst auch überrascht. Das Spontane 'na, und jetzt?' können wir den "now moment" nennen, den die Patientin intuitiv ergriff, indem sie den Purzelbaum schlug. Mehr noch: aus diesem now moment wurde ein "moment of meeting", denn die Szene erwies sich - wie Balint schreibt - "als wahrer Durchbruch".
In den "Moment der Begegnung" muß - so Stern - etwas Authentisches, Persönliches eingehen, etwas, das den Beziehungskontext "überschreitet", zumindest irritiert. Doch muß dies nicht nur wechselseitig "erkannt", sondern auch "anerkannt" (Hervorhebung durch E.S.) werden.
"Wäre Balint nicht ein Schüler des analytischen Ketzers Ferenczi gewesen, so hätte er vielleicht wie jener Analytiker reagiert, der für Stern (1998) Part eines Beispiels der Abwehr eines now moment darstellt" (Süsske 2002).
"Ein junger Mann, schon etliche Monate in Analyse, litt schamvoll unter der Verunstaltung durch Verbrennungsnarben auf seiner Brust, die Folge eines Unfalls waren. Sein Selbstwertgefühl war davon erheblich beeinträchtigt. In einer Sitzung 'setzte er sich, ohne viel nachzudenken auf, zog sein T-Shirt hoch und meinte: Hier, schauen sie. Dann werden sie mich besser verstehen! Abrupt, bevor er noch seine Narben entblößen konnte, fiel ihm sein Analytiker ins Wort: Nein, das müssen sie jetzt nicht tun! Beide waren von der Reaktion des Therapeuten überrascht.' Später verständigten sie sich darüber, daß dieses Verhalten nicht sehr hilfreich war. Wobei der junge Mann es aber als zusätzliches Versäumnis empfand, vom Analytiker kein persönliches Wort des Bedauerns zu hören, sondern nur den Hinweis auf das analytische Setting." (Stern 1998; Übersetzung und Zusammenfassung Süsske 2002)
Wenn die now moments von Therapeut und Patient hingegen so aufgegriffen würden, daß sie zu einem "spezifischen Moment des Zusammentreffens" führten, änderte sich auch das implizite Wissen beider Partner, indem ein neuer und vom vorausgegangenen moving along unterscheidbarer intersubjektiver Kontext geschaffen werde. Dadurch würde sich auch die Beziehung merklich verändern. Dieser Vorgang erforderte keine Deutung und müsse auch nicht verbal expliziert werden.
Wenn wir an das eben genannte Löffelklopf-Spiel denken, dann hat sich darin ebenfalls ein now moment gezeigt. Natürlich verlaufen diese improvisierten, selbstsuchenden und selbstkorrigierenden Begegnungen aus der Eltern-Kind-Interaktion nicht ständig so ideal.
Es wäre ohne weiteres denkbar gewesen, daß der kleine Lukas nicht mit seinem Löffel so begeistert hätte auf den Tisch klopfen dürfen, wenn in dem weichen Holz des Kieferntisches Macken entstanden wären oder der Vater aufgrund eines üblen Introjektes dieses hätte befürchten müssen. Vielleicht hätte der Vater in dieser Situation auch das Bedürfnis gehabt, "es seinem Sohn mal zu zeigen" und viel lauter als dieser gespielt. Auch dann hätten Vater und Sohn auf das nächste now moment warten müssen. Glücklicherweise entwickelte sich aber aus dem moving along der Frühstückssituation heraus das now moment der Löffelklopf-Kommunikation, das auch hinsichtlich der instrumentellen kommunikativen Kompetenz von Lukas einen deutlichen Fortschritt brachte - zugleich aber auch der Familie viel Spaß am Frühstückstisch in dem moment of meeting.
Wenn in der Therapie sich ein now moment herausbildet, sind Therapeut und Patient zumeist gleichermaßen überrascht. Sie sind dann "gewissermaßen von ihrer Wachsamkeit entbunden, da die genaue Form und Erscheinungsweise nicht antizipiert wurde, auch wenn es möglicherweise wahrscheinlich war, daß der Moment sich gleich oder später einstellen würde" (Stern 2001). Da ein solcher Moment aus dem Gewöhnlichen herausspringe und im Augenblick seines Entstehens nicht antizipiert werde, erlebten Therapeut und Patient meist Angst. Sie wüßten nicht genau, was sie tun sollten, außer - schlechtestenfalls - sich schleunigst wieder auf den gewöhnlichen Umgang zurückzuziehen. In dem Augenblick des now moment befänden sie sich auf unvertrautem Boden mit all den Möglichkeiten des Gelingens oder des Scheiterns, die im Nicht-wissen, was zu tun sei, enthalten seien: "Wenn ein Therapeut weiß, was er zu tun hat, dann hat er bereits den entscheidenden now moment verpaßt oder sich auf seine Technik zurückgezogen" (Stern 2001).
Deutlich wird, daß eng vorgezeichnete Vorgaben hier kontraproduktiv sind. Hingegen betont Stern (2001), daß die now moments zu einem "spezifischen Moment des Zusammentreffens" führen könnten, wenn Therapeut und Patient sich von ihrer Intuition leiten ließen.
Für diese intuitiven Prozesse hält Stern nur das implizite Beziehungswissen für bedeutsam. Dies mag etwas damit zu tun haben, daß er hinsichtlich der Patienten-Therapeuten-Dyade ausschließlich das analytisch-verbale Settung vor Augen hat. Selbstverständlich geht z.B. in eine Musiktherapie auch implizites instrumentelles Wissen mit ein.
Ich möchte Ihnen zur Intuition des now moment als therapeutischer Ressource abschließend etwas von meiner Patientin Wiebke erzählen. Wiebke war an einer Magersucht erkrankt. Als Wiebke mir das erste Mal mit ihren knapp 20 Jahren gegenübersaß, und ich sie fragte, was für sie in ihrem Leben wichtig sei, wovon sie träumen und worauf sie hoffen könne, sah sie mich nur erstaunt an und antwortete dann nach reiflicher Überlegung: "In meinem Beruf erfolgreich sein."
Mit dem Erfolg hatte Wiebke schon so ihre Erfahrung gemacht. Zunächst war sie das dritte Kind bei zwei sehr begabten und erfolgreichen älteren Geschwistern. Wiebke war ungeschickt, alles lief bei ihr schlechter und verzögerter ab. Ich nehme an, daß die Eltern sich schon ihre Sorgen zu dem Kind gemacht haben - bis es sich dann in einem Alter von drei oder vier Jahren zeigte, daß Wiebke musikalisch sehr begabt war. Sie hat dann nur noch gespielt - auf ihren Instrumenten: Geige, Flöte, Klavier dazu Balettunterricht. Für ein Spielen im Sinne eines kindlichen Spielens war keine Zeit mehr. Wiebke machte Karriere. Sie gewinnt Jugendwettbewerbe und den Platz an der ersten Geige im Jugendorchester, um den sie zusammen mit ihrer Freundin konkurriert hatte. Wiebke gewinnt den Wettbewerb, verliert aber darüber ihre Freundin. Als sie mit knapp 18 Jahren an der Hochschule nicht die Noten bekommt, die sie erwartet hatte, sondern etwas darunter, wirft sie ihre Instrumente in die Ecke, steigt aus ihrer Musikerinkarriere aus und wendet sich einem anderen Beruf zu. Wenig später manifestieren bei ihr die ersten Symptome der Magersucht.
In unserem moving along gibt es gleich zu Beginn einige Brüche. Auf meinen - sinngemäßen - Vorschlag, das zu erzählen, was ihr durch den Kopf gehe, äußert Wiebke wiederholt die Frage, was ihr denn durch den Kopf gehen solle. In meiner inneren Anschauung sehe ich ein trotziges kleines Mädchen vor den Noten sitzen, das fragt, welches Stück es denn nun vor- bzw. nachspielen solle. Mir fällt auch das Kind ein, das nie gespielt hat. Intuitiv schlage ich eine Änderung des setting vor. Ich sage zu Wiebke, daß wir heute nicht miteinander reden, sondern miteinander spielen wollten. Ziemliches Erstaunen und fragender Blick: Hier spielen...? Jawohl... Ich räume meinen Schreibtisch frei und packe drei Meter lang das Kreppapier drauf, das ich sonst als Unterlage für meine Untersuchungsliege verwende. Dann drücke ich Wiebke ein Stück weicher Holzkohle in die Hand... "Hier, das Papier schwärzen Sie erstmal vollständig ein. Danach können wir ja mit einem Radierstift - sie an der, ich an der anderen Ecke - die Linien und Flächen nachzeichnen, die sich durch das ungleichmäßige Einschwärzen ergeben haben." "Sie spielen mit?" "Ja!"
Im gemeinsamen Spielen hat sich dann tatsächlich ein moving along eingespielt, aus dem heraus sich ziemlich schnell ein erstes fabelhaftes now moment entwickelte. Wiebke schaute sich ihr zweites oder dritten Produkt an, sah mich an und ein Lächeln huschte über ihr sonst so vertrocknetes und versteinertes Gesicht. Sie kicherte und sagte: "Herr Doktor, das Bild sieht ja aus wie Ihre Füße..."
Ich wäre vor Überraschung fast aus den Sandalen gekippt, soviel Spontaneität, Witz und dann noch die Bereitschaft mit mir etwas zu flirten, hätte ich nun doch kaum erwartet. Indem ich auf meine Sandalen, bzw. Füße schaue, sage ich, das haben sie ja fabelhaft erkannt. Innerlich freue ich mich riesig. Wir beide haben ab sofort eine andere Beziehung zu einander... Auch der weitere Verlauf mit seinen now moments ist sehr ermutigend (s.a. Schiffer 1997/2001). Ihrem letzten Bild gibt Wiebke den Titel "Der abgestorbene Teil des Baumes im Feuersturm". Dieses Bild symbolisiert das implizite Wissen um ihre Leidensgeschichte, so auch das Wissen, daß ihr schöpferisches Selbst fast vertrocknet und im Feuersturm der Anorexie verbrannt wäre.
Über das schöpferische Handeln in der Therapie mit der Möglichkeit, affektusensomotorische Erfahrungen nachzuholen, eignete sich Wiebke lebendige und vielfältige Ausdrucksformen an. Sie konnte jetzt auch vieles - mitunter nahezu lyrisch - zur Sprache bringen.
Intuition ist im Spielerisch-Schöpferischen insbesondere auch im bildnerischen und plastischen Gestalten eine wichtige therapeutische Ressource. Diese erweist sich gerade da als wertvoll, wo die Sprache versagt oder im Kontext operativ-reduzierten Denkens unzulänglich ist.
Für den Therapeuten ist schöpferische Intuition auch eine wesentliche Ressource für die Aktivierung des Therapieprozesses über die Produktion einer bilderreichen Sprache. Über diese können dem Patienten unzugängliche, introjektgebundene Ängste und Spannungen dargestellt, Konflikte klarifiziert und Introjekte externalisiert werden.
Bei so viel "happy-end" noch ein warnender Hinweis: auch die schöpferische Vernunft kann die Wahrheit verfehlen. Sie steht, so Georg Picht (1969), "in jenem Zwielicht zwischen Wahrheit und Trug, das wir als Schein zu benennen pflegen."
Damit wir in der Intuition nicht die Wahrheit unserer Patienten verfehlen und aus therapeutischer Intuition keine Willkür wird, bedarf der therapeutische Prozeß der kollegialen Intervision, der Balintgruppenarbeit oder auch der Supervision.
Wenn somatopsychische Momente Kontrollverlust und Abstinenzunfähigkeit in der Suchterkrankung begründen, mögen auch engere Leitlinien ihre Berechtigung haben.
In der Intuition aber realisiert sich schöpferisch das Subjekt der Freiheit, das wir in der gegenwärtigen Situation der Kostendämpfungsbemühungen, der DRGs und Leitlinien immer mehr aus den Augen zu verlieren scheinen. Wenn aber der Therapeut als Identifikationsgestalt für den Patienten dieses Subjekt verkörpert, wie soll der suchterkrankte Patient zur inneren Freiheit finden, sich aus der Gefügigkeit des falschen Selbst lösen, wenn er nur einem reproduktiven Therapeuten begegnet?
In der Intuition werden wir schöpferisch produktiv, im detailfixierten leitlinienorientierten Handeln hingegen verbleiben wir eher reproduktiv. Übereinstimmend stellen Georg Picht (1969) und Daniel Stern (2001) fest: in der Intuition entfaltet sich der Kairos. Was wollen wir mehr?
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Literaturverzeichnis
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