Warum die Gute-Nacht-Geschichte Wunder wirken kann
Eckhard Schiffer im Gespräch mit Andreas Neider
Interview in der 'a tempo', Ausgabe 4/03
Andreas Neider: Herr Dr. Schiffer, Sie haben sich in zahlreichen Büchern mit Erziehungsfragen, mit pädagogischen Fragen und mit Kindern beschäftigt. Als Chefarzt einer Klinik ist das ja nicht unbedingt nahe liegend. Wie kam es zu dieser Beschäftigung mit Erziehungsfragen wie dem Thema "Zappelphilipp", über das Sie Ihr letztes Buch veröffentlicht haben?
Eckhard Schiffer: Da sind im Grunde mehrere Quellen zu nennen. Eine wäre die, dass wir bei vielen Patienten Therapieformen verwirklichen, die im Grunde Fortsetzung und Fortschreibung des kindlichen Spiels sind. Ob man nun an die Gestaltungstherapie denkt, das Arbeiten mit Ton, die Maltherapie, die Musiktherapie, die Reittherapie, die Arbeitstherapie auf dem Bauernhof, die Erlebnistherapie oder die Märchentherapie - im Grunde sind das Aktivitäten, die ganz viel mit dem kindlichen Spielen zu tun haben. Das, was sich dort therapeutisch entfaltet, verwirklicht sich auch im kindlichen Spiel und hat auf die seelischgemüthafte wie auf die gesamtkörperliche Entwicklung des Kindes, aber auch auf die Entwicklung des Gehirns einen außerordentlich positiven Einfluss.
Aber anstatt dass wir für die Patienten für viel Geld das Spiel in gewissem Maße nachstellen, wäre es natürlich viel sinnvoller, wenn die Patienten früher präventiv hätten spielen können, denn dann wären sie möglicherweise erst gar nicht zum Patienten geworden. Eine zweite, fast die bedeutsamste Quelle ist die, dass meine Frau und ich (meine Frau ist Grundschullehrerin, mit ganz besonderem Interesse an schöpferischen Fächern) schon seit 35 Jahren über die Möglichkeiten einer gut geförderten kindlichen Entwicklung im Gespräch sind und ich auch immer wieder im Unterricht meiner Frau einfach zuhöre und schaue, was da möglich ist. Schließlich muss man noch hinzufügen: Wenn wir überhaupt das Gesundheitssystem in unserem Lande noch finanzieren wollen, dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen, als nur dann, wenn der Schaden eingetreten ist, versuchen zu reparieren. Das heißt also möglichst früh, bevor überhaupt Krankheit auftritt, im Sinne einer Primärprävention Krankheit vermeiden helfen.
AN: Im Sinne solcher Prävention sprechen Sie immer wieder auch von dem sogenannten "Gute-Nacht-Ritual", von der positiven Rolle der Gute-Nacht-Geshichte und des Vorlesens. Warum hat das in Ihren Augen einen so hohen Stellenwert?
ES: Zum einen muss man ja davon ausgehen, dass heute kaum noch ein Kind ein gemeinsames Mittagessen mit der Familie erleben kann. In vielen Familien ist dies nicht mehr möglich, deswegen ist der Abend besonders wichtig für das Kind, weil es hier wahrgenommen werden und selber erzählen kann, was es den Tag über so erlebt hat. Wenn dann jemand dem Kind etwas erzählt oder vorliest, dann gibt es kaum ein Kind, das nicht voller Aufmerksamkeit zuhört. Und wenn Kinder aufmerksam zuhören, dann entwickeln sie innere Bilder und zwar eigene innere Bilder.
Dieses Entwickeln von eigenen inneren Bildern geschieht ja bei der Gute-Nacht-Geschichte sowohl bei dem Kind als auch bei dem Elternteil, das erzählt, denn beide hören ja dieselbe Geschichte. Und wenn sie ähnliche Bilder entwickeln, dann entwickeln sie auch ähnliche Stimmungen. Dieses abendliche Aufeinander-eingestimmt-Sein ist ungeheuer wichtig, weil in dieser Einstimmung die Gelassenheit, von der wir einmal annehmen, dass die Mutter oder der Vater diese Einstellung mitbringt, auf das Kind abfärbt. In der Gelassenheit sind die Gefühle des Kindes gut aufgehoben, sie müssen nicht verdrängt werden, sie müssen nicht abgewehrt werden, sondern sie sind in jeglichem Sinne gut aufgehoben. Dann kann das Kind erstens besser schlafen und zweitens entwickelt es selber auch eine Gelassenheit und nicht die Aufgeregtheit eines hyperaktiven Kindes. Über innere Bilder kommen außerdem die Gefühle vom Gefühlsufer zum Sprachufer, es müssen aber eigene innere Bilder sein, nicht die medial aufgezwungenen. Dabei werden die Gefühle verarbeitet, sie werden sich nicht stauen, so dass sie irgendwann durchbrechen. Wenn die Mutter aber selbst unter Dampf steht, weil sie drei Kinder versorgen muss, noch eine Halbtagsarbeit hat, den Haushalt versorgen muss usw., dann kann sie die notwendige Gelassenheit wahrscheinlich nicht vermitteln. Deswegen ist familiäre Solidarität gefordert, Großonkel, Großtante, Nachbarn oder der Vater, der von seiner wichtigen Sportschau einmal wegkommt und erzählt. Und was das Schöne ist: das Vorlesen wird für das Kind zum Motiv, selber lesen zu wollen, wobei das Lesen - das wissen wir wiederum aus der Neurobiologie - das beste Training des Gehirns für die Entwicklung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten darstellt.
AN: Ein zweiter Bereich, den Sie ja auch als sehr wichtig für die kindliche Entwicklung darstellen, ist das kindliche Spiel. Da unterscheiden Sie zwischen "Play" und "Game". Gerade die "Games" - insbesondere die "Videogames" - sind ja zur Zeit stark auf dem Vormarsch. Sie differenzieren hier sehr bewusst und legen besonderen Wert auf die Form des "Play". Was verstehen Sie darunter?
ES: "Play" und "Fair-Play" sind die beiden Spielformen, die ich als sehr wichtig ansehe. "Play" meint: Erfahrung der Welt mit allen Sinnen, einschließlich des Sinnes für die eigene motorische Fortbewegung und für das Muskelgefühl, das Körpergefühl. Das, was wir im Spiel mit allen Sinnen erfahren, wird in unseren Denksymbolen aufbewahrt. Denksymbole, das sind Begriffe und Worte, aus denen heraus sich unsere Phantasie speist. Ob ich nun einen Ball ausschließlich vom Videospiel kenne oder ob ich mit ihm gebolzt, geschossen oder was auch immer habe, ist ein sehr großer Unterschied. Wenn ich mit dem Ball viele körperliche und affektive Erfahrungen gemacht habe, dann ist das Denksymbol "Ball" affektusensomotorisch sozusagen voll geladen, wie eine Tasse mit Tee. Wenn der "Ball" aber nur vom Videospiel her bekannt ist, dann ist dieses Denksymbol sensomotorisch nur gering beladen. Je mehr ein Denksymbol affektusensomotorisch beladen ist, desto lebendiger lässt es unsere Phantasie werden. Das lässt das Kind wiederum unglaublich frei werden. Wenn Kinder über eine solche Phantasie verfügen, dann wird aus einem Stück Holz ein Schiff, eine Puppe, eine Eisenbahn oder was auch immer. -Wenn ich etwas erlebe, wenn ich etwas wahrnehme, dann speist sich dieses Wahrnehmungserlebnis aus zwei Quellen. Das eine ist, wenn ich jetzt das Brötchen esse, die aktuelle Wahrnehmung, was ich auf der Zunge schmecke, das zweite ist aber die Erinnerung daran, wie wir früher selber Brötchen gebacken haben. Das ist das, was als innere Wahrnehmung dazu kommt. Je weniger innere Wahrnehmung da ist, desto stärker muss der Außenreiz werden. Und die innere Wahrnehmung speist ihre Intensität eben auch aus diesen affektusensomotorischen Erfahrungen, die in den Denksymbolen, d.h. inneren Bildern aufbewahrt sind. Der Mangel an inneren Bildern, die sich zur Außenwahrnehmung dazu gesellen, führt zu einer immer stärker werdenden Sucht nach äußeren Reizen. Diese Entwicklung sieht man an vielen Beispielen. Das sieht man beim "Fastfood" und der Intensität der Aromastoffe, man sieht es an den Horrorvideos oder am Bungee-jumping und vielem anderen.
Die Außenreize müssen immer intensiver werden, weil ich sonst von meiner Innenwahrnehmung her eigentlich nur noch ein hohles Gefühl habe. Hier wirkt also das Spielen im Sinne von "Play" sehr präventiv über die lebendige Phantasie, die mich frei werden lässt. Dann halte ich es auch im Stau aus oder am Krankenbett, ich fühle mich nicht gefesselt, sondern bin in meiner Phantasie frei, ich kann zaubern. Meine Autonomie ist nicht eingeschränkt, meine Identität ist dadurch gefestigter. Wenn ich so viel Autonomie in meiner Phantasie erlebe, dann fällt mir der Schritt von der Autonomie im Spielen zur verantworteten Autonomie nicht schwer. Wenn ich innerlich viel Autonomie habe und frei bin, dann kann ich davon auch ein Stück abgeben, dann kann ich die Mitspieler wahrnehmen. Das Wahrgenommenwerden durch andere - das ist die Definition von "Fairplay", den anderen sich in seinen Entfaltungsmöglichkeiten darstellen lassen. Die Definition von "Game" hingegen wäre, den anderen auszuschalten.
AN: Sie haben sich mit einem Zweig der medizinischen Forschung beschäftigt, den man als "Salutogenese" bezeichnet. Sie hat mit dem, was wir eben besprochen haben, sehr viel gemeinsam. Der Erfinder der Salutogenese, Aaron Antonovsky (1923 - 1994), spricht hier vom "Kohärenzgefühl". Vielleicht können Sie das noch etwas genauer beschreiben.
ES: Die Wurzel des Kohärenzgefühles liegt in der Überlegung von Antonovsky bezüglich der Entwicklung von Frauen, die die KZ-Inhaftierung und die damit verbundenen entsetzlichen Erfahrungen überlebt haben. 30 % dieser Frauen hatten später in den Wechseljahren eine leidlich stabile bis recht gute Gesundheit und wurden auch mit dieser neuen Lebensphase gut fertig, 70 % waren erwartungsgemäß durch das KZ-Erleben seelisch und körperlich ruiniert, depressiv, krank, zerbrochene Menschen. Antonovsky fragte sich nun: Wie war es diesen Frauen möglich, diese Zeit gesund zu überleben? Diese Frage hat er dann auf die Gesamtbevölkerung erweitert. Er hat bei seinen Untersuchungen dann herausgefunden, dass es ein bestimmtes Gefühl, eine bestimmte Weitsicht, eine bestimmte Einstellung ist, und die nannte er das "Kohärenzgefühl", also das Gefühl, einen inneren Zusammenhalt zu haben, sich stimmig zu fühlen und nicht zu zerbrechen.-Dieses Kohärenzgefühl wiederum hat drei Säulen: das Erleben, Zusammenhänge begreifen zu können: das Gefühl, die Aufgaben, die gestellt werden, meistern zu können: und das Gefühl der Sinnhaftigkeit. Da bezieht sich Antonovsky ausdrücklich auf Viktor Frankl. Das Erleben der Fähigkeit, Aufgaben zu meistern und die Welt zu verstehen, das ergibt sich aus der Situation des Spielens am allerbesten. Weil ich da an vielfältigen Situationen lerne, Zusammenhänge zu begreifen. Im Spielen wird etwas nicht nur mit Worten vermittelt, sondern u. a. durch das Tun. Dieses Verstehen von Welt vermittelt ein sicheres Gefühl, und dann entsteht aus dem Verstehen heraus auch die Zuversicht, dass Aufgaben gelöst werden können. Dieses Erleben ermutigt mich, auf die Welt zuzugehen, mich positiv mit ihr auseinanderzusetzen. Wenn ich dieses Kohärenzgefühl habe, dann lässt mich Stress nicht so schnell krank werden. Das Kohärenzgefühl vermittelt Gelassenheit gegenüber Stressoren.Wenn ich gelassen bleibe dann bleiben auch meine ganzen Alarmsysteme, mein Immunsystem und Kreislaufsystem im Gleichgewicht, also alles das, was mit Infektionskrankheiten, was mit Krebs zu tun hat, mit Herz-Kreislaufkrankheiten, alles das wird dann nicht in eine pathologische Stellung hineingebracht. Das Ganze nannte Antonovsky eben "Salutogenese", was ja wörtlich übersetzt "Entstehung von Gesundheit" bedeutet.
AN: Die Vorsorge oder Prävention liegt ja eigentlich weitgehend außerhalb des ärztlichen Bereiches, da kann der Arzt gar nicht so viel tun, da sind Eltern, Erzieher oder Lehrer gefragt. Die geraten aber dadurch auch immer mehr unter Druck, dass sie quasi merken, wir machen alles falsch oder es scheint so, als ob wir alles falsch machen würden. Worauf sollten Eltern oder Lehrer also achten?
ES: Das Medium, über das präventiv-psycho-hygienische und salutogenetische Elemente vermittelt werden können, das ist heute in der Tat die Pädagogik. Das ist eben auch deshalb so, weil es die Gruppe, die wir "Peergroup" nennen, heute praktisch in der Erlebniswelt der Kinder nicht mehr gibt. Die "Peergroup" der auf der Straße zusammen spielenden Kinder, die wir in den Büchern einer Astrid Lindgren paradigmatisch vorgeführt bekommen, mit ihrer Haltefünktion und dem Bindungsgefühl kann aber im schöpferischen Gestalten miteinander im Kindergarten oder auch in der Grundschule gewissermaßen nachgestellt werden. Da sollte es aber eben keine Noten geben, sondern es sollte das gelten, was ein Kind hervorbringt.
Wenn ein Kind ein Bild malt, dann ist das Kind das Bild. Und bekommt das Bild eine Fünf, dann bekommt das Kind eine Fünf. Das geht mehr unter die Haut, als wenn sie eine Mathe-Arbeit verhauen, weil das Kind das Bild selber produziert hat. Von daher sind Kindergarten und Grundschule, sind auch Sportvereine wichtige Orte, an denen salutogenetisch und präventiv gearbeitet werden kann. Und wenn wir diese Chancen nicht aufgreifen, werden wir immer mehr gestörte Kinder haben und unser Gesundheitssystem wird aus den Nähten platzen. Entweder es gelingt, diese zukunftsweisende Aufgabe zu meistern, was aber auch mit einem veränderten Lebensstil der Erwachsenen einhergehen muss, oder wir werden in der medizinischen Versorgung ein Zweiklassen-System haben, wo die Gutverdienenden sich das leisten können und andere eben nicht mehr.
Eckhard Schiffer spricht zum Thema "Salutogenese" im Rahmen des ersten Salutogenese-Kongresses, vom 9. bis 11.Mai 2003 in Stuttgart Bad Cannstatt. Karten hierfür gibt es unter www.rothfuss-medien.de oder beim Veranstalter: Agentur "Von Mensch zu Mensch", Tel. 07 11 1248 50 97, E-Mail aneider@. gmx.de