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Salutogenese und Prävention

Eckhard Schiffer, Quakenbrück
Referat am 9. September 2004 um 12.00 Uhr in Hannover
XVI. Niedersächsische Suchtkonferenz
Paradigmenwechsel in der Sucht - nicht: was macht uns krank, sondern: was hält uns gesund?

Das unbestimmte Nebeneinander in meinem Referattitel - Salutogenese und Prävention - trügt in seiner scheinbaren Harmlosigkeit. Es eröffnet vielmehr ein unübersichtliches Gelände definitorischer und prozessevaluativer Schlangengruben. Um diese herum möchte ich zunächst einige Trampelpfade anlegen.
Das gemeinsame Ziel von Prävention und Salutogenese scheint in vielen zeitgenössischen Texten und Projekten in der Gesundheitsförderung zu bestehen. Im Kontext der programmatischen Sogwirkung der WHO-Konferenz in Ottawa 1986 werden unter Gesundheitsförderung zunehmend nicht nur klassische Präventionselemente im Sinne einer Risikominimierung, sondern auch eindeutige salutogenetische Perspektiven rubriziert. "Für viele Autoren ist daher die Umsetzung des Salutogenesemodells in der Prävention gleichbedeutend mit der Umsetzung des WHO-Konzeptes der Gesundheitsförderung." (1)
In einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt (47/2003, Seite 2583 - 2587) vom 21. November 2003 zur Prävention der Adipositas wird vor allem vor Bewegungsmangel gewarnt. Gleichzeitig wird in einer Zitierung der Empfehlungen der American Heart Association Spaß an der Bewegung empfohlen. Spaß an der Bewegung ist aber - auch wenn man präventiv das eliminieren würde, was den Spaß verderben könnte - eine salutogenetische Ressource.
Trotz dieser praktischen und faktischen Nicht-Differenzierung salutogenetischer und präventiver Momente gilt es jedoch zunächst zu unterscheiden:
Prävention als Prinzip der frühzeitigen Identifizierung und Bekämpfung pathogener Faktoren basiert auf dem Pathogenese-Modell der Neuzeit, das Antonovsky ausdrücklich nicht nur als komplementär, sondern auch als polar zum Salutogenese-Modell versteht.
Allerdings: In der klassischen Antike war die präventive Medizin als zweite Säule neben der kurativen Medizin durchaus schon salutogenetisch eingefärbt. Erst in der Neuzeit entstand das Modell des Körpers als einer reparaturanfälligen Maschine in der Tradition des Arztes und Philosophen Rene Descarts. Wohl am radikalsten wird dies in La Mettries polemischen Buch "L'homme machine" (1747) ausgedrückt. Dieses biotechnische Modell hat sich dann aufgrund der damit verknüpften Erfolge auch im Rahmen der Prävention durchgesetzt. Erinnert sei an die Erfolge der Präventivmedizin im Hinblick auf die Pockenimpfung (Eduard Jenner) oder die Arbeiten von Louis Pasteur zur Hygieneforschung.
Das heutige Verständnis von Präventivmedizin im engeren Sinne - das heißt vor dem Einfluss der Ottawa-Charter - als der Lehre von der individuellen und kollektiven Prophylaxe von Krankheit, Unfall, Invalidität und vorzeitigem Tod basiert weitgehend auf der 1964 erschienenen Arbeit des amerikanischen Psychiaters Gerald Caplan "Principles of preventive psychiatry" (New York). Und das nicht nur im psychiatrischen Kontext!

Caplan unterscheidet zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention:
Die Primärprävention bezieht sich auf die Anstrengungen, die unternommen werden, dass eine Krankheit erst gar nicht auftritt. Primärprävention will sowohl auf individueller Ebene - durch Aufklärung, Erziehung, Information, d.h. "durch psychische und körperliche Impfung" - als auch auf struktureller Ebene - z.B. durch soziale Gesetzgebung - Einfluss gewinnen. Das Prinzip der Primärprävention ist "so früh wie möglich" und "so breit wie möglich". Deswegen kann man statt von primärer Prävention auch von "universeller Prävention" sprechen. Diese wird "unabhängig von vorhandenen Risikofaktoren auf eine gesamte Bevölkerungsgruppe angewendet". (2)

Die sekundäre Prävention, von der Caplan spricht, bezieht sich auf Interventionen bei einer Krankheit im Initialstadium, wenn ein weiteres Fortschreiten, bzw. Chronifizierung verhindert werden sollen. Zur Sekundärprävention gehören auch die Früherkennungsmaßnahmen.
Die Tertiärprävention schließlich gilt der Vermeidung von möglichen Folgestörungen bei bestehenden Krankheiten (wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Partnerkrisen). Thema der Tertiärprävention ist auch die Rückfallprophylaxe. An dieser jahrzehntelang gültigen Einteilung ist zunehmend Kritik geübt worden. Dies insbesondere im Hinblick auf die Tertiärprävention: Wenn die Erweiterung eines Herzkranzgefäßastes einem weiteren Infarkt vorbeugen soll, dann schließt dies zwangsläufig auch kurative Aspekte mit ein. An Hand welcher Kriterien sind dann Prävention und kuratives Handeln noch voneinander zu trennen? (3)
Primärprävention hingegen wurde als universelle Prävention insbesondere in der Suchtprävention als immer umfassender verstanden: Weg vom erhobenen Zeigefinger, hin zur Ressourcenstärkung und Lebenskompetenzförderung! (Vor fünfzehn Jahren, als ich das Büchlein "Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde" schrieb, war dies durchaus auch Grundlage meines Konzeptes) Diese Metamorphose ist zeitnahe zur Ottawa-Charter einzuordnen.
Das Konzept der Gesundheitsförderung basiert also als Weiterentwicklung des Präventionsgedankens zunächst auf dem Pathogenesemodell. In der Folgezeit sind dann aber implizit und explizit zunehmend Elemente des Salutogenesemodells integriert worden. (4)

Wenn aber Präventivmedizin als Gesundheitsförderung Gesundheit im Schilde führt, dann muss sie

  1. berücksichtigen, dass Gesundheit - wie Antonovsky betont - etwas anderes ist als "Nicht-Krankheit". Dann reicht das pathogenetische Modell als alleinige Grundlage nicht mehr aus und
  2. muss sie ihr zugrundeliegendes Menschenbild deklarieren.

"To reach a state of complete physical, mental and social well-being", wie es in der Ottawa-Charter heißt, ist doch eher in der Nähe der Anthropologie der nordamerikanischen Verfassungsväter angesiedelt als bei Antonovskys skeptischen Bild vom reißenden Fluss, an dessen Ende wir alle in den Abgrund stürzen. Um in dieser Metapher zu bleiben: die Verfasser der Ottawa-Charter schauen immer noch nach dem ruhigen Plätzchen am Flussufer aus, anstatt den im reißenden Fluss Schwimmenden zu ermöglichen, den Kopf über Wasser zu halten.
Zudem lässt sich Gesundheit nicht - im Unterschied zur Krankheit - leitlinienmäßig beschreiben, sondern muss erst als subjektiver, sinngebundener Entwurf in ihrem soziokulturellen Zusammenhang entdeckt werden. Hierfür ein kleines Beispiel: Der barocke Leib als Festung gegen Schwindsucht und Hungersnot, der heutige schlanke Leib als Ideal, durchtrainiert und triebkontrolliert - beide Formen aber immer wieder sehr nahe auch an der Krankheit. Hier der Herzinfarkt, da die Ess-Störung. Zitat Antonovsky: "Aber die eigentlichen Quellen des Kohärenzgefühls müssen in der Natur der Gesellschaft liegen, in der jemand lebt, in einer bestimmten historischen Periode, in einer bestimmten sozialen Rolle, in die jemand eingebettet ist." (5)
Wenn also Prävention bzw. Gesundheitsförderung ihre Adressaten erreichen wollen, so werden sie nicht umhin kommen, zumindestens annäherungsweise eben dieses zeit- und subjektgebundene Verständnis von Gesundheit zu erschließen.
Betrachten wir aus dieser Perspektive das eingangs genannte Projekt zur Prävention von Übergewichtigkeit - in dem ja auch salutogenetische Momente auftauchen - so zeigt sich Folgendes:

  1. Wir gehen zunächst davon aus, dass fast alle Menschen in unserem Kulturkreis gesünder sind, entlang der WHO-Definition ihnen auch ein besseres Wohlbefinden zu eigen ist, wenn sie den Body-Mass-Index nicht zu weit in Richtung Übergewicht überschreiten. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung von Folgekrankheiten wie vorzeitiger Gelenkverschleiß und koronare Herzkrankheit.
  2. Wir müssen dabei aber berücksichtigen, dass es für eine Reihe von Menschen im präventiven Sinne auch wichtig sein kann, ein deutliches Übergewicht zu haben und zu behalten, um nicht anderweitig zu dekompensieren - zum Beispiel im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung nach sexueller Traumatisierung.
  3. "Spaß an Bewegung" in dem Programm der American Heart Association ist eine salutogenetische Kategorie, auch wenn zur Prävention dazugehört, zu sorgen, dass uns dieser Spaß nicht verdorben wird.

An dieser Stelle möchte ich das Ineinandergreifen von salutogenetischen und präventiven Momenten - in Unterscheidung zu deren Gleichsetzung - als Gesundheitsförderung verdeutlichen. Und zwar an dem Beispiel, in dem es um den Spaß, bzw. die intrinsische Motivation geht, etwas Gesundheitsförderliches zu tun, nämlich sich ausreichend zu bewegen.
Ich möchte im weiteren nun lieber von Freude als von Spaß sprechen. Spaß hat eher etwas mit externen Stimuli, mit fun und Spaßgesellschaft zu tun und kostet meistens Geld. Der Freude ist mehr ein intrinsisches Moment zu eigen, hat mit verinnerlichten Erfahrungen in Intermediärräumen zu tun. (Sie erinnern sich: Intermediärraum - der unsichtbare Raum zwischen der Fantasie des Kindes und dem Sandhaufen vor ihm, Winnicott.)
Die allermeisten Kinder haben bis ins Grundschulalter auch heute noch sehr viel Freude an Bewegung - ungefähr so wie auf dem bekannten Breugel-Bild mit den vielfältigen Kinderspielen.
Allerdings: je älter unsere Schulkinder heute werden, desto mehr verpassen sie sich freiwillig das, was zu meiner Jugendzeit vor fünfzig Jahren noch das Allergrässlichste war, das einem Kinde widerfahren konnte: nämlich Stubenarrest. Die Kinder sitzen quasi gefesselt vor den elektronischen Medien. Bewegung erschöpft sich in der Benutzung des Joy-sticks und der Mouse oder im Zappen. (Am nächsten Morgen zeigt sich dann in der Schule statt Bewegungsfreude ein kaum kontrollierbarer Bewegungsdrang, der dann zwangsläufig sanktioniert wird)
Damit nun die Freude an der Bewegung im Kindesalter sich als salutogenetische Ressource weiter entfalten kann, bedarf es der Prävention im klassischen Sinne im Hinblick auf den nachmittäglichen Konsum von Fernseher, Spielkonsole und Computer. Diese Prävention meint: Verschließen der virtuellen, Eröffnen der intermediären Räume. Nur in der kindlichen Bewegung, im Rennen, Klettern, Schwimmen, Bolzen, im Raufen mit dem Objekt, beim Werkeln, Singen, Malen erfahre ich mich als lebendiges, leibhaftiges Subjekt mit einer körperlichen Basisidentität, einem sicheren Körperschema und akzeptablem Körperbild. Dann bleibt mir die Freude an Bewegung erhalten, kann sich diese als salutogenetische Ressource entfalten, so dass der Stubenarrest spontan - d.h. intrinsisch motiviert - eingeschränkt wird.
Und dann werde ich vermutlich auch nicht so schnell übergewichtig.
Sie sehen, ohne Prävention keine Entfaltung salutogenetischer Ressourcen und ohne salutogenetische Ressourcen keine dauerhafte, intrinsisch gestützte Prävention.
Allerdings - das, was ich Ihnen eben vorstellte, meint nur einen Aspekt im Hinblick auf Freude an der Bewegung im Kontext des Ineinandergreifens von Prävention und Salutogenese. Es geht aber noch weiter.
Was wird aus der Freude an schöpferisch-motorischer Entfaltung der Kinder im ersten Schuljahr, die sich - wie mir meine Frau immer wieder berichtet - noch spontan melden, um allein ein Lied vorzusingen oder einen Purzelbaum zu schlagen? Wir könnten ja mal ein kleines Experiment veranstalten, indem wir nur ein Prozent unserer Zuhörerschaft bitten würden, hier nach vorne zu kommen, um einzeln jeweils ein Lied vorzusingen, ein Selbstbildnis zu malen und zum krönenden Abschluss noch einen Purzelbaum zu schlagen. Stellen Sie sich diese Situation - gleich alleine hier vorne zu stehen und sich singend, malend und Purzelbaum schlagend schöpferisch-motorisch zu entfalten - intensiv vor und achten Sie dabei auf die Gefühle, die sie dabei entwickeln mögen - indem Sie das tun, was die Kinder im ersten Schuljahr noch mit großer Freude machen ...
Ich gehe davon aus, dass die meisten von Ihnen mit einem gewissen Entsetzen darauf reagierten und recht unangenehme Gefühle, nämlich antizipatorische Beschämungsgefühle, entwickelten. Diese Gefühle sind lebensgeschichtliche - immer noch berührungsempfindliche - Narben aus den Begegnungen mit den "Grauen Herren", die uns irgendwann mal sagten, dass wir nicht schön genug singen, wir uns ungeschickt bewegen oder unser Bild nicht genügte. In unseren schöpferischen Entfaltungen werden wir eben deswegen so stark getroffen, weil wir mit diesen schöpferischen Eigenproduktionen identifiziert sind, sie gewissermaßen unser Selbst darstellen. Und wird unser Lied oder Purzelbaum schlecht bewertet, werden wir selbst schlecht bewertet. Dies im Unterschied zu unseren Reproduktionen, die nicht unser Eigenes darstellen, sondern nur Wiederholungen eines schon Bekannten, wie zum Beispiel das Lösen einer Mathematikaufgabe.
Da, wo uns die Grauen Herren in unserer schöpferischen Entfaltung entwertend treffen, entstehen Beschämungsnarben. Erfolgt diese Beschämung nur oft genug, dann schlägt sie irgendwann in Selbstverachtung um. Dann haben wir die Grauen Herren im Sinne negativer Introjekte verinnerlicht. Und diese negativen Introjekte, die uns beschämen, bzw. zur Selbstverachtung führen, haben ein Geheimnis. Das kennen Sie alle: diese Introjekte sind rauschmittellöslich.
"Warum trinkst Du?" fragte der Kleine Prinz den Säufer. "Weil ich mich schäme." "Und warum schämst Du dich?" "Weil ich saufe!" Einem solchen Teufelskreis gilt es präventiv zu begegnen. Das heißt konkret: Beschämungen in der schöpferisch-motorischen Entfaltung unserer Kinder vermeiden. Keine Schulnoten eben dafür z.B. in den ersten vier Schuljahren - zumindestens. Was Schulnoten darin für Folgen haben, das haben Sie vermutlich eben selber hautnah gespürt.
Das Ganze lässt sich aber auch salutogenetisch formulieren. Schöpferisch-motorische Entfaltung, in der das Tun genauso viel gilt wie das Ergebnis, der Prozess und nicht die Produktbewertung entscheidend ist, lassen das entstehen, was mit den Kriterien der American Heart Association gefordert wird: Spaß, bzw. Freude an der Bewegung.
Beschämung vermeiden meinte dann den präventiven Aspekt, spontane Freude in der schöpferisch-motorischen Entfaltung in Intermediärräumen meinte den salutogenetischen Aspekt.
Das Spannende daran ist, dass über die zunehmenden Anforderungsstrukturen, die die Kinder im spontanen Spiel suchen und daran ihre Skills entfalten, sie eben das erfahren, was in dem Salutogenesemodell als Handhabbarkeit und Verstehbarkeit beschrieben wird. Verstehbarkeit und Handhabbarkeit werden dann in den Intermediärräumen des Dialoges in das Moment der Sinnhaftigkeit integriert. Es dürfen nur keine entwertenden Grauen Herren dreinreden.
Zitat Antonovsky: "Die salutogenetische Orientierung führt uns bei dem Versuch der Ortsbestimmung einer Person auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu dem , was wir ‚die Geschichte' einer Person nennen. Die Geschichte einer Person umfasst nicht nur die Risikofaktoren in ihrem Leben, sondern auch Faktoren, für die wir noch nicht einmal Namen haben, da wir so selten nach ihnen suchen. Im pathogenetischen Modell können wir die Abwesenheit von Risikofaktoren feststellen, wir können sogar protektive, Puffer- oder Mediatorenvariablen auffinden. Aber solange wir nicht salutogenetisch orientiert sind, suchen wir nicht nach den Faktoren, die aktiv für eine Bewegung in Richtung auf den Gesundheitspol des Kontinuums verantwortlich sind, und die ich die "heilsamen Ressourcen" (salutary ressources) nenne." (6)
Heilsame Ressourcen als salutogenetische Momente finden wir zum Beispiel in den Intermediärräumen des Spielens und des Dialoges.
Primäre Prävention hingegen hieße, die Grauen Herren nicht in diese Intermediärräume eindringen zu lassen.
Tertiäre Prävention, in ihrer Janusgesichtigkeit zugleich auch Therapie, meint in weiterer Unterscheidung dazu, eingedrungene Graue Herren aus den Intermediärräumen wieder zu verbannen, d.h. ein malignes selbstentwertendes Introjekt zu externalisieren, um z.B. die berufliche Entwicklung nicht durch einen überzogenen und damit beschämend-demoralisierenden Leistungsanspruch zu gefährden. Und gerade auch die Tertiärprävention und Therapie süchtiger oder suchtgefährdeter Menschen geht sinnvollerweise mit der Förderung eines starken Kohärenzgefühles einher - sprich: schöpferische Entfaltung in Intermediärräumen, Ausbildung von Skills aufgrund zunehmender Anforderungsstrukturen verknüpft mit der Sinnfindung in den Intermediärräumen des Dialoges.
Zurück zur Salutogenese und Prävention. Um Ihnen deren Ineinandergreifen noch etwas lebendiger darzustellen, habe ich Ihnen zum Schluss eine Szene aus den Geschichten um meinen Lieblingshelden Huckleberry Finn mitgebracht. Sie wissen, der Huckleberry Finn war hochgradig suchtgefährdet - der Vater ein notorischer Säufer, von der Mutter ist schon gar nicht mehr die Rede. Hier also der Text:
Huck ist zusammen mit seinem Freund Jim, einem entflohenen Negersklaven, auf der Flucht. Auf der Fahrt mit dem Floß auf dem Mississippi legen sie gerade eine Mittagspause ein.
"Wir nahmen noch'n paar Fische von den Haken, die inzwischen angebissen hatten und warfen die Angelschnüre wieder aus. Dann machten wir alles zum Mittagessen fertig.
Der Zugang zur Höhle war nicht größer als'n Schweinskopf. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Boden etwas erhöht. Hier machten wir ein Feuer und kochten unser Mittagessen.
Sehr bald wurde es dunkel, und es fing an zu donnern und zu blitzen. (...) Gleich hinterher fing es an zu regnen, und bald goss es wie mit Eimern. Und der Wind heulte, wie ich's noch nie gehört hatte. Es wurde so duster, dass draußen alles wie in Tinte getaucht aussah (...). Und dann tauchte ein Blitz alles in helles, goldenes Licht und man konnte für einen Moment Baumkronen erkennen, die ganz weit weg waren.
'Jim, ist das nicht schön?' fragte ich. 'Ich möchte nirgendwo anders sein als hier.
Gib mir noch mal'n Stück Fisch und 'nen heißen Maiskuchen.' "
Auf dem Bild zu dieser Textpassage aus dem "Huckleberry Finn" fühlen sich die beiden offensichtlich wohl. Ihnen schmeckt es ausgezeichnet, obwohl ihr Mahl - Fisch und Maiskuchen - relativ bescheiden ist und draußen die Welt unterzugehen scheint. Kohärenzgefühl pur!
Ihr Kohärenzgefühl speist sich aus ihrer Freundschaft, ihrem Dialog und ihren Skills, vermöge derer sie die Anforderungen, die der Mississippi an sie stellt, meistern können. Gemeinsam überstehen sie das Abenteuer ihrer Flucht.
Und wo, werden Sie vielleicht fragen, wo bleibt die Prävention?
Nun, das war bei Huckleberry Finn ganz einfach. Seine Prävention bestand darin, dass er aus der wohlmeinend-neurotisierenden Bürgerswelt ausbüchste und die Schule schwänzte, um seine salutogenetischen Ressourcen sich entfalten zu lassen.
So leicht haben wir es heutzutage mit der Prävention leider nicht mehr.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. Bengel, J., Strittmatter, R. & Wilmann, H. (1998): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Bd. 6. Köln.
  2. Miller, Y. u.a. (2002): Frühprävention von externalisierenden Störungen. Praxis Kinderpsychol. Kinderpsychiat., 51, 441 - 453.
  3. Martin Hafen versucht im Schweizer SuchtMagazin (Nr. 1) vom Februar 2002 das Dilemma zu lösen, indem er folgende Unterscheidung vorschlägt: "(Es) werden alle Maßnahmen als 'Prävention' oder Gesundheitsförderung bezeichnet, welche die Verhinderung eines Problems zum Ziel haben, das noch nicht manifest geworden ist; alle anderen Maßnahmen - und damit auch die Tertiälprävention - werden der Behandlung zugeordnet." Auf der definitorisch sicheren Seite scheinen wir damit zumindestens bei der Primärprävention zu sein. Allerdings räumt Hafen auch ein, dass faktisch Maßnahmen der Primärprävention in gleichem Umfange und gleicher Qualität auch kurativ bei Früherkrankten oder Angehörigen von Risikogruppen eingesetzt werden können. Hierfür ein einfaches Beispiel: Bewegungsförderung wird sowohl zur Prävention als auch zur Therapie von Übergewichtigkeit propagiert.
  4. "Das Modell der Salutogenese ist in etwa zeitlich parallel mit gemeindepsychologischen Ansätzen, dem Konzept des Empowerment und sozial-ökologischen Ansätzen formuliert worden. All diese Ansätze stehen für bzw. ermöglichten einen Perspektivenwechsel in der Prävention, der seinen Niederschlag in der Ottawa-Charta der WHO und im Ansatz der Gesundheitsförderung findet. Auch wenn in der Ottawa-Charta 1986 der Begriff der Salutogenese bzw. des Kohärenzgefühls noch nicht auftaucht, wird die Stärkung des Kohärenzgefühls später als zentrales Anliegen der Gesundheitsförderung genannt und das von Antonovsky formulierte positive Selbstbild der Handlungsfähigkeit als ein wesentliches Element von Gesundheit betrachtet.
    Für viele Autoren ist daher die Umsetzung des Salutogenese-Modells in der Prävention gleichbedeutend mit der Umsetzung des WHO-Konzeptes der Gesundheitsförderung. Aus den Grundannahmen von Antonovskys Modell leitet sich für die Gesundheitsförderung und Prävention die Forderung ab, Kindern und Jugendlichen eine Umwelt zu schaffen, die ihnen ausreichend Ressourcen bietet, um ein starkes Kohärenzgefühl herausbilden zu können. Das Kohärenzgefühl dominiert zwar als personale Ressource das Modell der Salutogenese, für seine Entwicklung müssen jedoch gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen darauf abzielen, ein breites Spektrum an individuellen, sozialen und kulturellen Faktoren (z.B. Intelligenz, Bildung, Bewältigungsstrategien, soziale Unterstützung, finanzielle Möglichkeiten, kulturelle Stabilität) zu fördern".
    Bengel, J. u.a.
  5. Antonovsky, A. (1993): Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung. In: A. Franke & M. Broda (Hrsg.), Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Pathogenese-Konzept. Tübingen: dgvt-Verlag
  6. Antonovsky, A. (1993): a.a.O.

Literaturverzeichnis

  • Antonovsky, A. (1993): Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung. In: A. Franke & M. Broda (Hrsg.), Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Pathogenese-Konzept. Tübingen: dgvt-Verlag.
  • Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag.
  • Bengel, J., Strittmatter, R. & Wilmann, H. (1998): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Bd. 6. Köln.
  • Ende, M (1973): Momo. Stuttgart: Thienemann.
  • Graf, C. u. a. (2003): Prävention von Adipositas durch körperliche Aktivität - eine familiäre Aufgabe. Dtsch Ärztebl 100: A 3110 - 3114 (Heft 47).
  • Miller, Y. u.a. (2002): Frühprävention von externalisierenden Störungen. Praxis Kinderpsychol, Kinderpsychiat, 51, 441 - 453.
  • Schiffer, H. & Schiffer E. (1982): Die Welt nicht mehr begreifen können. Evangelische Kommentare, 15, 385 - 387.
  • Schiffer, E. (1993/1997): Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde. Anstiftung gegen Sucht und Selbstzerstörung bei Kindern und Jugendlichen. Weinheim und Basel: Beltz.
  • Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim und Basel: Beltz.
  • Schiffer, E. & H. (2004): LernGesundheit. Lebensfreude und Lernfreude in der Schule und anderswo. Weinheim und Basel: Beltz.
  • Winnicott, W. Donald (1979): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta.