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Zur Notwendigkeit einer salutogenen Stadt

Leicht veränderte Fassung eines Gastkommentars für das Bersenbrücker Kreisblatt (6.11.04) im Zusammenhang mit der Ermordung einer Taxifahrerin in Quakenbrück am 21.10.04

Gewalt hat immer ihre Geschichte. Auch plötzliche und heimtückisch-mörderische Gewalt. Und Gewalt erzeugt ihre Geschichte: Von Entsetzen, Trauer, Angst, Misstrauen, Zorn und oftmals auch von neuer Gewalt wird in der Folgegeschichte erzählt. Die Vor-Geschichte hingegen ist oft nur mit Mühe zu rekonstruieren.
In der ältesten Vorgeschichte dieser Art, einem Familiendrama, wird von einer Verletzung des Selbstwertgefühles, von einer unheilvollen, nicht steuerbaren narzisstischen Wut berichtet, aus der heraus Kain seinen Bruder erschlägt.
Diese Wut dient der Wiederherstellung des Selbstwertgefühles. Paradoxerweise oft um den Preis der Selbstzerstörung, wie das Schicksal des Amokläufers von Erfurt im Jahre 2002 verdeutlicht.
Gewaltgeschichten sind nicht nur in familiär begrenzte, sondern auch in umfassendere gesellschaftliche Kontexte eingeflochten. Wenn - wie am 1.11.04 in Quakenbrück - der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer in seinen Vorträgen auf die Destruktionszunahme in Folge eines überbordenden Medienkonsums hinweist, dann sind ihm stets viele aufmerksame Zuhörer zu wünschen. Denn elektronische Bildmedien wirken so auf unsere Hirnprozesse ein, dass eine zeitgleiche emotional tiefgreifende Wahrnehmung unserer Kinder nicht möglich ist. Immer mehr Kinder unserer Mediengesellschaft wachsen als Wahrnehmungswaisen auf. Und wenn sie dann aus solch einer Mangelerfahrung heraus in Schule, Ausbildung, Beruf, im Sportverein oder wo auch immer erleben, dass nur die Sieger, die Ersten, Schönsten und Besten etwas zählen, dass es darauf ankommt, den anderen auszuschalten und dass Geiz geil, Barmherzigkeit aber out ist, dann werden die Verlierer, die notwendigerweise zeitgleich mit den Siegern zu erwarten sind, ein sehr brüchiges Selbstwertgefühl entwickeln. Und möglicherweise darüber selbst oder andere zerbrechen.
Gewalthandlungen Jugendlicher mit massiven Körperverletzungen in und vor den Discos - die sehrwohl von früheren Wirtshaushändeleien zu unterscheiden sind - gehören scheinbar zum unbeachteten Tagesgeschehen. Eher merken wir auf, wenn die Verliererdestruktion sich in zerschlagenen Scheiben, beschädigten Autos und offenen Naziparolen widerspiegelt.
Wenn wir dann - verständlicherweise - nach der Polizei rufen, sollten wir auch daran denken, dass wir selber aufgerufen sind, unseren Kindern dialogisch wahrnehmend zu begegnen und ihnen ein Umfeld, eine salutogene Stadt zu ermöglichen, in der sie über freie Entfaltung im Spiel zugleich ein stabiles Selbstwertgefühl und die Fähigkeit zum Fairplay entfalten können. Salutogene Stadt heißt: bezahlbare Kindergartenplätze insbesondere für Kinder aus Problemfamilien, Spielstraßen und Schulwege ohne permanente Gewalterfahrung durch den Straßenverkehr, Nachbarschaften und Klassenelternschaften, die sich auf gewaltfreie Computerspiele und Videos verständigen, "Allianzen für das Lesen" und attraktive Bücher zum Ausleihen unmittelbar in den Grundschulklassen und nicht nur in den Schulbibliotheken; gemeinschaftliches schöpferischen Handeln wie Malen, Musizieren und Singen - aber ohne Wettbewerb. (Warum brauchten wir erst hirnphysiologische Untersuchungen, um daran erinnert zu werden, dass die altmodische Hausmusik und das Singen im Chor gemeinschaftsfördernd und gewaltmindernd wirken? Allen seien die Filme "Die Kinder des Herrn Mathieu" und "Rhythm is it" empfohlen). Zur salutogenen Stadt gehören auch Integrationszentren für Randgruppen und "Familienkraftwerke" zur solidarischen Unterstützung von Müttern und Vätern. (Letztere hervorragend als bereits konkretisierte Utopien von Susanne Meyer in "Plädoyer für eine neue Familienkultur", Eichborn 2002, beschrieben). Die Aufzählung ließ sich noch weiter fortsetzen ... Der jetzt in Quakenbrück neu entstandene Initiativkreis "Gewaltfreies Quakenbrück" könnte hier ggf. zeitnahe Motivationen bündeln.
Narzisstische Krisen speisen sich aus anhaltender und umfassender Nichtbeachtung, Entwertung und Verachtung. Dies zu wissen, heißt nicht mörderische Gewalt entschuldigend zu billigen. Es heißt vielmehr, aus dem Schock und aus der Trauer heraus verstärkt präventiv und salutogenetisch aktiv zu werden. Darauf zu achten, dass wir unseren Kindern und Jugendlichen - solidarisch auch denen, die nicht unmittelbar uns anvertraut sind - statt Nichtbeachtung und Entwertung ein Wertschätzung vermittelndes Wahrgenommenwerden ermöglichen. Ihnen nicht nur ein Interesse als potentiellen Käufern, Konsumenten, Wählern usw. entgegenbringen! Dies erscheint um so dringlicher, als positive Wahrnehmungserfahrung erst ermöglicht, die Antlitzhaftigkeit eines Gegenübers wahrnehmend zu erkennen. Und nur über dieses Moment werden die - auch den Menschen angeborenen - Verletzungs- und Tötungshemmungen aktiviert. Sie sind die letzten Barrieren, die auch einen berechneten oder impulsiven Tötungsakt verhindern könnten. Zugleich ist über diese angeborenen Hemmungen auch die Chance gegeben, Gewaltgeschichten abzuschließen, so dass ihnen nicht immer neue Kapitel folgen müssen.