Fragen Sie Huckleberry Finn!
Berliner Lesezeichen Literatur Zeitung 12/96
Elise Liebscher
Als eine "Anstiftung gegen Sucht und Selbstzerstörung bei Kindern und Jugendlichen" bezeichnet der Autor sein Buch im Untertitel. Das ist vielleicht ein ganz kleiner psychologischer Trick, wird mit dem Wort doch im allgemeinen etwas negativ Angestiftetes, wie etwa Brandstiftung, assoziiert. Der schöne Sinn von "Stifter" ist in dem Bedeutungswandel fast ganz untergegangen. Der Autor rechnet womöglich mit der Neugier auf eventuell böse Anstiftung, um sein Buch an den Leser zu bringen. Ein Verkaufstrick ist das nur bedingt. Im Anstifter spricht ein Stifter von Erfahrungen und in vieljähriger Praxis erworbenen Kenntnissen im Umgang mit Süchten und Suchtgefährdeten. In einem Brevier von fünfzehn Kapiteln stellt er wesentliche individuelle und sozial bedingte Zusammenhänge dar, die Suchtverhalten bewirken können.
Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde, beantwortet Schiffer gleich im ersten Kapitel, und er kommt ab und an, wenn er komplizierte Fälle von Suchtverhalten analysiert, darauf zurück.
Frage und Antwort sind zwar ein wenig spekulativ, denn es ließe sich sehr einfach sagen, der Schriftsteller Mark Twain habe eben anderes mit ihm vorgehabt, aber Autor Schiffer will mit der Figur des Jungen aus den weltbekannten Romanen des Amerikaners eine Hauptthese vorbeugender Suchtbekämpfung sinnfällig machen. Huck Finn, der Freund Tom Sawyers, mehr Kind noch als Halbwüchsiger, aus asozialen Verhältnissen stammend, ohne Zuhause, ist der Ärmsten einer. Diese widrigen Lebensumstände bergen in sich die Möglichkeit zu nahezu uneingeschränkt selbstbestimmtem Verhalten. Das macht die literarische Figur für den Psychologen zum Träger seiner Botschaft. Huck Finn in seiner Ungebundenheit kann ungehindert seine schöpferischen Kräfte entfalten. Öde und Langeweile zum einen, Zwänge zum anderen, sind, so Schiffer, die Vorstadien der Sucht. Er appelliert an die Leser, die Welt der Kinder so zu gestalten, daß sich Zerstörung der Innen- und Außenwelt nicht in jeder Generation wiederholt, er lädt ein zum Tagträumen, zu Aufsässigkeit und Abenteurertum.
Diesem Appell folgt logisch die Auseinandersetzung mit der sozialen Welt und den in ihr geltenden Normen und mit Entwicklungstendenzen, die Suchtgefährdungen in sich tragen.
Die Krankengeschichten seiner erwachsenen Patienten bilden gleichsam das Gegenstück zu Huckleberry Finns Lebenslust. Sie stehen exemplarisch für Defizite und Überforderungen, die krank machen.
Schiffer lenkt die Aufmerksamkeit auf solche Zusammenhänge, die von jedem zu beeinflussen wären. Voraussetzung ist, daß man zu kritischer und selbstkritischer Beobachtung der Lebensumstände in der Lage und bereit ist, sich psychisch deformierenden Tendenzen zu widersetzen. Mit den Krankengeschichten klärt er über vermeidbare Versäumnisse auf. So legt er mit großer Dringlichkeit und beweiskräftig nahe, wie wichtig es ist, Kindern spontanes, zweckfreies Spielen zu ermöglichen. Den Wert solchen Spiels sieht er in der Entfaltung der Sinnestätigkeit einschließlich der Bewegungssinne, in der Ausbildung von Phantasie, dem Gewinn lustvoller Welterfahrung. Solche Ausübung von Kreativität bestärkt die kindliche Persönlichkeit, wie die Persönlichkeit überhaupt, in ihren eigengestalterischen Lebensaktivitäten. Er schlägt vor, alle künstlerischen Betätigungen im Schulunterricht - Musik, Malen, Gestalten - vom Druck der Zensurierung, also der Leistungsverpflichtung, zu befreien. Videos, Computerspiele, Fernsehen, elektronisches Spielzeug legen Phantasie lahm. Die eigene Bilderwelt wird überflutet von Fremdbildern, Lesen wird langweilig. "Die innere Landschaft gleicht einer Wüste oder besser noch einer Betonpiste", schreibt er. Aus dieser inneren Leere erwachse das Bedürfnis nach Reizen von außen, entsteht Sucht. In diesen Zusammenhang ordnet er auch das unkontrollierte Fernsehen, Kaufrausch und ein pathologisches Leistungsideal ein. Er unterzieht das Leistungsideal, das Eltern und Schule aus der gesellschaftlichen Norm ableiten und ihren Kindern zumuten, differenzierter Betrachtung. Ohne hohe Leistungsforderung in Gänze zu kritisieren, macht er auf eine Art von Mißbräuchlertum aufmerksam, in dem sich individuelle und gesellschaftliche Deformationen spiegeln. Er wertet es als Mechanismus zur Angstabwehr, der für die Entstehung von Süchten wesentlich ist. Von der unbeschönigten Schilderung der Situation an den Schulen, des desinteressierten, ja feindseligen Verhältnisses zwischen Schülern und Lehrern, in dem die Frustrationen eskalieren, leitet er über zu möglichen therapeutischen Maßnahmen für Lehrer und praktischen schulreformerischen Vorschlägen.
Schiffers Erörterung der Erscheinungen ist in hohem Maße konstruktiv. Schon, wie er sein Wissen und seine Kritik dem Lesepublikum anbietet, das wissenschaftliche Niveau wahrend und populär in der Darlegung, spricht für den Wunsch, den Leser seinem therapeutischen Anliegen tatkräftig zu verbinden. Außerdem ist das Buch dank der leichten Hand, mit der der Autor theoretisch schwer beladene Phänomene aphoristisch verkürzt, eine anregende, sogar fesselnde Lektüre. Immer wieder überbietet er das Gesagte noch mit einem überraschend neuen Gedanken, der seinerseits themenbildend sein könnte. Das Kapitel "Vom gesunden Eigen-Sinn" führt er zu einer solchen Pointe. Der unverschämte Eigensinn, so schreibt er, könne auch den Eigensinn anderer gelten lassen. "Aber genau das wäre Toleranz, das heißt der Modus einer herrschaftsfreien Beziehung ..." In einem Anhang erklärt er Begriffe seiner Wissenschaft in ihrer Vieldimensionalität. Das gibt dem Leser ein bescheidenes Instrumentarium an die Hand, zum einen zur Auseinandersetzung mit dem hier Gesagten geeignet, zum anderen, um sich andernorts leichter zurechtzufinden.
Schiffer, E.: "Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde.
Anstiftung gegen Sucht und Selbstzerstörung bei Kindern und Jugendlichen."
1999 Beltz Verlag, Weinheim.Basel
152 Seiten, Euro 10
ISBN 3-407-22004-9
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