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Schatzsuche statt Fehlerfahndung

Kunst und bildnerisches Gestalten als entwicklungsförderndes Potential

Sehr geehrte Frau Nannen, sehr geehrte Frau Dr. Fleischner, sehr geehrter Herr Sommer,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

herzliche Glückwünsche zum 20-jährigen Geburtstag der Malschule hier an der Kunsthalle Emden. Ich habe schon einmal vor einigen Jahren hier referiert und war von der Arbeit der Malschule sehr beeindruckt. Darüber hinaus weiss ich von meiner Frau, die Grundschullehrerin ist mit einem besonderen Interesse für das Fach Kunst, welche kreativen Impulse von Emden ausgehen. In meinem Referat wird häufiger die Rede von Intermediärräumen sein. Intermediärräume sind die - nicht sichtbaren - Räume z.B. zwischen der Fantasie des Kindes und der Matsche, in der es sich gerade tummelt oder zwischen seiner Fantasie und dem Blatt Papier, das vor ihm liegt und das es gerade mit Farbe bearbeitet. Aus den Intermediärräumen entspringt auch jegliches kulturelle Schaffen des Erwachsenen, einschliesslich der Fähigkeit, Psychotherapie gelingen zu lassen - so der geniale Donald Winnicott. Intermediärräume eröffnen sich spielerisch-schöpferisch; aber auch im Dialog, in den hinein sich zwei verlieren können. Ich glaube, dass hier in Emden sehr geeignete Schlüssel für die Eröffnung solcher Intermediärräume produziert werden.

Als Geburtstagsgruss habe ich heute abend vorerst einen ostfriesischen Trinkspruch mitgebracht, den ich Ihnen gleich vortragen will. Mit Hilfe dieses Trinkspruches möchte ich zeigen, wie der Dialog kommunikative Intermediärräume eröffnet.

Zugleich möchte ich mit Hilfe dieses Trinkspruches etwas komprimiert zwei aristotelische Begriffe vorstellen. Es geht bei den Begriffen um die mimesis, als Darstellung des Wesentlichen und nicht wie bei Platon nur Nachahmung; ferner geht es um die aisthesis, Wahrnehmung mit dem Ziel des Erkennens und die aisthesis techne, - die Kunst des Erkennens - aus der dann eingedeutscht Ästhetik geworden ist.

Doch zunächst der ostfriesische Trinkspruch:

 

Auf Hochdeutsch:

 

Ick seh Di

 

Ich seh Dich

 

Dat freit mi

 

Das freut mich

 

Ick supp Di t(i)au

 

Ich trink Dir zu

 

Dat dau

 

Das tu

 

Ich seh Dich, ich nehme Dich wahr und zwar in einer Art und Weise, die bei dem Wahrgenommenen Freude erzeugt - „dat freit mi“.

Wahrnehmung mit dem Ziel des Erkennens, ist fundamental für das Gelingen der dialogischen Begegnung. Jede Mutter weisst das implizit und mancher Therapeut auch.

Darstellung des mir Wesentlichen (mimesis) ist ein weiteres Grundelement gelingender dialogischer Begegnung. „Ick supp Di t(i)au...“ mit diesem symbolischen Akt möchte ich darstellen, dass mir Dein Wohlergehen wichtig ist.

Meine These, die ich Ihnen mitgebracht habe, lautet nun: in den Intermediärräumen des kommunikativen Handelns wie Spiel und Dialog kann sich über ästhetisch-mimetische Prozesse ein schöpferischer Eigen-Sinn entfalten. Dieser Eigen-Sinn stellt eine wesentliche gesundheitsförderliche Ressource insbesondere des Kindes, dann aber auch des Erwachsenen dar. Stehen für diese ästhetisch-mimetischen Prozesse nicht die geeigneten Intermediärräume des Spielens und des Dialoges zur Verfügung, kann sich kindlicher Eigen-Sinn nur als Kümmerform oder auch in einer Form entwickeln, die mit dem Eigen-Sinn der Erwachsenen dann heftig kollidiert. Verkürzt: Gesundheit und soziale Kompetenz des Kindes entfalten sich über ästhetisch-mimetische Prozesse in den Intermediärräumen schöpferisch-kommunikativen Handelns wie Spiel und Dialog. Für diesen ziemlichen theoretischen Satz bin ich Ihnen jetzt erst einmal ein praktisches Beispiel schuldig.

Das Beispiel stammt aus dem Kunstunterricht meiner Ehefrau Heidrun, Grundschullehrerin mit einem besonderen Interesse für das Fach Kunst:

In der sonst eher unruhigen zweiten Grundschulklasse ist es mucksmäuschenstill. Die Lehrerin spielt zusammen mit der Klasse: „Ich sehe mal was, was Du nicht siehst!“ Gemeint ist damit, dass die Kinder in der auf den Kunstunterricht folgenden Stunde an einer Pinwand alle ihre Bilder aufgehängt haben und nun die Lehrerin in unsystematischer Folge jedes Bild in seinen Einzelheiten beschreibt. Die Kinder sind dabei aufgefordert, herauszufinden, welches Bild denn jeweils von der Lehrerin beschrieben wird. Das Thema war: wir malen die Hexe aus dem Weihnachtsmärchen. Vierundzwanzig verschiedene Hexen sind dabei entstanden, die sich alle deutlich von einander unterscheiden, so dass es den Kindern früher oder später gelingt, herauszufinden, welche Hexe von der Lehrerin jeweils beschrieben wird. Die Kinder sind von dem Spiel fasziniert und möchten es am nächsten Tag gleich noch mal spielen. Und wieder ist es in dieser Klasse mucksmäuschenstill.

Hintergrund dessen ist zunächst, dass jedes Kind mit seinem schöpferischen Produkt - gleich ob Bild, Bastelei, Lied oder Aufsatz - identifiziert ist. Die Bilder, die vorn in der Klasse von der Lehrerin beschrieben werden, sind die Kinder. Es werden also in dem Spiel „ich seh mal was, was Du nicht siehst“ nicht nur die Bilder, sondern auch die Kinder in ihrer Identität und Unterscheidbarkeit beschrieben. Und das Bedürfnis nach Identität und Unterscheidbarkeit ist genauso existentiell wie das nach Liebe und Anerkennung. (Unbeschadet dessen, dass es zu dem Bedürfnis nach Identität und Unterscheidbarkeit auch das polare Bedürfnis gibt, nämlich einer Gruppe anzugehören). Voraussetzung für die Unterscheidbarkeit und Identitätsbildung der Schüler über ihre Bilder ist die Freiheit im Kunstunterricht, dass jedes schöpferische Produkt in der Intention gilt, in der es vom Schüler geschaffen wird. Es gab also keine normierte Hexe, die gemalt werden musste. Die Vorgaben des Unterrichtes bestanden in den Materialien, dem Thema und in der Mindest- beziehungsweise Maximalzeit, über die die Kinder verfügen konnten beziehungsweise sollten. Pädagogische Interventionen erfolgten da, wo die Kinder - in der Anfangsphase des Kunstunterrichtes noch mehr als zum Zeitpunkt der Hexenproduktionen - dazu neigten, „husch husch-fertig-Produktionen“ abzuliefern.

Die Kinder schauen vom Anfang bis zum Ende des Spieles gebannt auf die Bilder. Diejenigen, deren Bild, beziehungsweise Identität noch nicht beschrieben worden ist, sind natürlich interessiert zu wissen, ob sie jetzt „dran sind“. Die anderen, die es bereits im wortwörtlichen Sinne genossen haben, vor aller Augen und Ohren in ihrer Identität und Unterscheidbarkeit wahrgenommen zu werden, können nun zufrieden und entspannt die fortschreitende Identifizierung der Bilder verfolgen. Es gilt das einfache Motto: wenn ich in meiner Identität wahrgenommen und anerkannt werde, dann kann ich auch entspannt die Identität meines Nachbarn wahrnehmen und gelten lassen. Und die erkennbar anders gestaltete Identität meines Nachbarn lässt meine eigene Identität wiederum umso deutlicher hervortreten.

In einer anderen Klasse, in der dasselbe Thema auf andere Art und Weise behandelt wurde, war dieser Prozess der Eigendarstellung und Wahrnehmung des Dargestellten durch die Lehrerin und die Mitschüler nicht möglich. (Folie mit Schablonenhexen).

Bemerkenswert an der zuvor genannten Klasse war, dass deren Unruhe, die sich anfänglich auch im Kunstunterricht zeigte, besonders in diesem Fach gegen Ende des Schuljahres immer mehr zurückging. Auch die hypermotorischen und unaufmerksamen Kinder konnten im Verlaufe des Schuljahres eine immer grössere Werktreue zeigen, das heisst, dass sie immer länger und konzentrierter an ihren Bildern arbeiten konnten.

Fazit: Wird das Bild (Bastelarbeit, Lied, Aufsatz, körperliche Übung, neu erworbene Kompetenz...) gesehen, so wird auch das Kind gesehen und in seiner Identität wahrgenommen. Es kann aber nur die Identität des Kindes sein, wenn in dessen schöpferischer Eigendarstellung sich auch die Absicht und die Kompetenz des Kindes widerspiegeln und nicht durch eine Schablone prä- oder deformiert worden sind. Eine eigene sichere Identität - Identität als Antwort auf die Frage: wer bin ich? - bildet sich also nicht aus Schablonen, sondern in der schöpferischen Darstellung meines Eigen-Sinnes.

Und eine sichere Identität ist eine wesentliche gesundheitsförderliche Ressource. Über die Darstellung meines Eigen-Sinnes, also dessen, was mir wesentlich ist, entfaltet sich ein starkes Kohärenzgefühl. Und das Kohärenzgefühl ist in dem Modell zur Gesundheitsentstehung, d.h. dem salutogenetischen Modell, Grundlage von körperlicher und seelischer Gesundheit.

Doch, bevor ich fortfahre - was ist eigentlich unter dem salutogenetischen Modell und dem Kohärenzgefühl zu verstehen?

In dem Modell der Salutogenese, das von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923 bis 1994) stammt, ist Gesundheit etwas anders als Nicht-Krankheit. In dem herkömmlichen Krankheitsentstehungsmodell, d.h. dem pathogenetischen Modell, so Antonovskys Kritik, wird nur darüber nachgedacht, wie Krankheit entsteht und wie diese zu bekämpfen sei. Vergessen werde darüber, dass Gesundheit von Krankheit zu unterscheiden ist und dass es eigene Kräfte gibt, durch die Gesundheit gefördert wird. Grundlegend für Gesundheit sind das Kohärenzgefühl, bzw. der Kohärenzsinn.

Das Kohärenzgefühl meint eine Grundstimmung oder Grundsicherheit, innerlich zusammengehalten zu werden, nicht zu zerbrechen und gleichzeitig auch äusserlich bei Bedarf Unterstützung und Halt zu finden.

Der Kohärenzsinn hingegen beschreibt eine mit diesem Gefühl einhergehende und an gedankliche Aktivitäten geknüpfte Weltsicht: Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem grösseren Zusammenhang begreifen (Dimension der Verstehbarkeit). Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge auch über innere und äussere Ressourcen, die ich, um mein Leben zu meistern, einsetzen kann (Dimension der Handhabbarkeit). Für meine Lebensführung ist Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinndimension).

Verstehbarkeit

+

Handhabbarkeit

+

Sinnhaftigkeit

der Welt, Zusammenhänge begreifen

 

Vertrauen aus eigener Kraft oder mit Unterstützung Lebensaufgaben zu meistern

 

Es gibt Ziele und Projekte für die es sich zu engangieren lohnt

 

 

 

 

 

 

 

ist gleich

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kohärenzgefühl/Kohärenzsinn

 

 

 

 

„innerer Zusammenhang“
und „äusserer Zusammenhalt“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

daraus resultiert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gesundheit

 

 

 

Das Kohärenzgefühl ist entscheidend für unsere körperliche und seelische Gesundheit - gerade auch unter Belastung.

Eine sichere Identität als Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ ist nun in dem salutogenetischen Konzept Antonovskys eine entscheidende Quelle für das Kohärenzgefühl.

Antonovsky stiess auf das Kohärenzgefühl bei der Befragung von Frauen, die die Folter und das Entsetzen des Holocaust überlebt hatten. Ihn interessierte, wie diese Frauen auch unter dem Aspekt einer veränderten Körperlichkeit nach dem Klimakterium mit ihrem Leben zurechtkamen. Erwartungsgemäss zeigten sich Zweidrittel der Frauen in einer miserablen körperlichen und seelischen Verfassung. Ein Drittel kamen jedoch mit sich selbst und der Umwelt erstaunlich gut zurecht. Diese Frauen befanden sich auch in einer bemerkenswert guten körperlichen und seelischen Verfassung. Das Gemeinsame, das diese Frauen aufwiesen, war eben das Kohärenzgefühl. Und das Kohärenzgefühl ist als Grundlage von seelischer und körperlicher Gesundheit in vielen Untersuchungen der jüngsten Zeit immer wieder neu bestätigt worden.
Ein Stolperstein dabei: Gesundheit lässt sich - im Unterschied zur Krankheit - nicht leitlinienmässig definieren, sondern muss als Entwurf in ihrem soziokulturellen Zusammenhang und oft auch soziokultureller Verborgenheit jeweils erst entdeckt werden. Gesundheit als Schatzsuche.

Für die jeweils soziokulturelle Einbettung von Gesundheit ein kleines Beispiel: der barocke Leib als Festung gegen Schwindsucht und Hungersnot, der heutige schlanke Leib als Ideal, durchtrainiert und triebkontrolliert. Beide Formen aber immer wieder auch sehr nahe an der Krankheit: hier der Herzinfarkt, da die Essstörung. (Folie)

Zurück zur Identität: Identität ist - trotz aller zeitgenössischen Relativierung - immer noch eine wesentliche salutogenetische Ressource.
Über die Darstellung meines Eigen-Sinnes, also dessen, was mir wesentlich ist - und das fällt auch unter den Begriff mimesis - entfaltet sich ein starkes Kohärenzgefühl. Identität beginnt jenseits der Schablone.
Als literarische Gestalten sind es gerade die unangepassten und häufig auch störenden Kinder zum Beispiel in den Geschichten Astrid Lindgrens, die eine sichere Identität und damit zugleich ein starkes Kohärenzgefühl vermuten lassen. Denken Sie an Pippi Langstrumpf und Michel von Lönneberga, mit deren schöpferischen Eigen-Sinn wir uns auch als Erwachsene immer noch gerne identifizieren. Diese Kinder - von Huckleberry Finn bis Pippi Langstrumpf - verfügen über ein Kohärenzgefühl, das sie über alle Schwierigkeiten hinwegträgt. Pippi Langstrumpf ist unerschütterlich in ihrem Wissen, dass ihr Vater, der Kapitän, bei dem Sturm nicht untergegangen ist: „Der ist so dick und dicke Leute gehen bekanntlich nicht unter“. Der Michel, der zur Disziplinierung in den Holzschuppen gesperrt wird, schnitzt dort zunächst einmal in aller Seelenruhe seine Männchen aus Holz, um dann souverän auf dem nur ihm vertrauten Fluchtweg aus dem Schuppen zu entweichen.

Anders war es meiner Patientin Agnes ergangen. Diese besass nur ein brüchiges Kohärenzgefühl. Eine Antwort auf die Frage: wer bin ich? vermochte sie nicht zu geben.
Agnes erschien vom ersten Eindruck her wie versteinert. Sie hatte seit langer Zeit einen Diabetes mellitus. Über die Krankheit wusste sie fast alles. Sie beobachtete und kontrollierte ihren Körper, traktierte ihn als Homo faber exakt entlang medizinischer Anweisungen. Trotzdem geriet ihre Stoffwechsellage immer wieder durcheinander. Durch Fressorgien oder, wenn sie in verzweifelten Ausbrüchen dem Alkohol reichlich zusprach.
Obgleich sie zu ihrer eigenen Leiblichkeit ein Verhältnis hatte wie ein Experimentalphysiker zu einer nicht funktionierenden Versuchsanordnung, äusserte sie sich dahingehend, dass wohl die Seele bei ihr „mit im Spiel sei“. Aber die Seele erschien in dem Zusammenhang ihrer Rede wie eine defekte Kabelverbindung.
Agnes suchte verzweifelt Hilfe, ging dabei jedoch gleichzeitig immer wieder auf Distanz.
Was mir in der Therapie zu schaffen machte, war die ungeheure Selbstverachtung, die einen tragenden Kontakt über lange Zeit erschwerte, uns auf Distanz hielt und auch aggressive Impulse in mir aktivierte. Was mich hingegen ermutigte, waren sehr engagierte und auch lebendige Kontakte, die Agnes - selbst ledig und kinderlos - zu sozial benachteiligten Kindern unterhielt.
Vor diesem Hintergrund tasteten wir uns an ihre eigene „Spiel-Vorgeschichte“ heran. Und die war erschütternd.
So ist Agnes z.B. mit ungefähr fünf Jahren bei einem herrlichen Spielen mit Matsch und Laub - „wir kochten Mittagessen“ - beauftragt worden, auf eine ältere Dame im Hause aufzupassen. Diese war offensichtlich verwirrt, lief während des Spielens der Kinder weg und brachte sich um. Und Agnes bekam die Schuld: „Wenn Du nicht so viel gespielt hättest, wäre das nicht passiert!“
Für Agnes gab es kein Lob, nur wohlgemeinte Ermahnungen und moralische Vorschriften.
Diese Beziehungserlebnisse führten zu einem inneren Wächter, eher noch Sklavenhalter. Dieser flüsterte ihr ständig ein, dass das, was sie spontan täte, doch nichts tauge, sie sei die geborene Versagerin. Sie solle nur aufpassen, dass sie nicht zu übermütig werde.
Ständig aufpassen, alles gut kontrollieren, vor allen Dingen nie wieder so etwas geschehen lassen, wie „sich selber im Spiel zu verlieren“, d.h. die Kontrolle über sich selbst aufzugeben, waren die Anweisungen des Wächters. Dieser Wächter vor den Intermediärräumen des Spielens wurde mit der Zeit innerlich so angenommen, dass Agnes ihn für einen Teil ihres Selbst hielt, ohne sich daran zu erinnern, dass dieser Wächter eben von aussen in sie eingedrungen war.

Nach mehreren Anläufen traute sich Agnes, sich selbst aus Ton als Zehnjährige mit Ball darzustellen

Tonmodell Agnes als 10jährige (kleine Version)

Und dann geschah etwas Aufregendes. Sie erschien zur nächsten Sitzung mit einem alten Klassenfoto. Und auf dem hatte sie genau den gleichen traurigen Gesichtsausdruck, den ihre Tonfigur wiedergab. „ Ich habe gesucht, aber kein Foto gefunden, auf dem ich lache. Da haben mich nur traurige Gesichter angesehen. Das ist mir früher gar nicht so aufgefallen“. Dann blätterte sie in einem Heft und über ihr Gesicht ging ein Strahlen, das ich bei ihr noch nie gesehen hatte. „Sehen Sie“ - und sie verwies auf ein anderes Foto - „hier haben wir gespielt. Und mir ist auf einmal durch den Kopf gegangen, was ich alles gerne gemocht habe, was ich gespürt und gefühlt hatte“. Und Agnes liess strahlend entlang ihrer Stichworte, die sie auf einem Zettel mitgebracht hatte, ganz viel lebendig werden: den Kuhstall und Melkgeruch, frisch gebackenes Brot, im Juli morgens in der Erde jäten, Tannenzapfen suchen, Bratäpfel, Kartoffelfeuer, Holzhacken, barfuss draussen nach dem Gewitterregen laufen, Spielen im Sand, Sandberge, Duft der Pfifferlinge im Herbst, getrocknetes Holz im Backofen, Abendhimmel im Dezember, der erste Schnee und vieles mehr....

Agnes war aus ihrer Todesstarre, ihrer Identitätslosigkeit erwacht. Aber dies war nur möglich aufgrund der frühen Spielerfahrungen, an die sie über das Spielerisch-Gestalterische in der Therapie wieder Anschluss fand. Im Spielerisch-Schöpferischen der Therapie konnte sie - nach langer Zeit - die grauen Herren als Wächter vor dem Paradies ihrer Spielerfahrungen überlisten. Alkohol und Fressorgien brauchte sie nicht mehr, um sich selber zu spüren und auszuhalten. Ihre Zuckerkrankheit stabilisierte sich. Sie brauchte nur noch die Hälfte des Insulins, das sie vordem gebraucht hatte.

Agnes hatte ihre lebendige Phantasie wiederbekommen, die sie dann im schöpferischen Handeln ihres Alltages auch umsetzen konnte. Vermöge ihrer Phantasie war sie innerlich wieder reich. Sie konnte etwas erleben und das was sie erlebte, ihre Gefühle, Bilder und Gedanken auch in einer lebendigen Form anderen Menschen mitteilen. Agnes hatte zur ihrer Identität, die sich aus ihren spielerisch-schöpferischen Quellen speiste, zurückgefunden. Und damit auch ihr Kohärenzgefühl neu gestärkt. Bislang stand vor ihren Intermediärräumen, aus denen diese Quellen entsprangen, ein drohendes Gespenst, oder wenn man so will, ein Grauer Herr aus der Geschichte um Momo, der ständig wiederholte „Du darfst Dich im Spielen nicht verlieren!“ Aber: indem ich mich im Spiel verlieren kann, finde ich mich in meiner Identität! Die Selbstverlorenheit zur Selbstfindung hin ist die eine Seite im Spiel. Die andere Seite ist die der schöpferischen Selbstdarstellung als Identitätsaufweisung, die in kommunikativen Handeln wohlwollend wahrgenommen werden will.

Das Bedürfnis sich spielerisch-schöpferisch darzustellen und dabei wohlwollend wahrgenommen zu werden, zeigt sich in jedem zwischenmenschlichen Dialog vom ersten Augen-Blick an.
Bereits „Neugeborene folgen einem sich bewegenden Objekt in ihrem Gesichtsfeld mit den Augen. Maximale Sehschärfe besteht auf eine Distanz von 20 cm. Diese Entfernung wird von Eltern intuitiv eingenommen, wenn sie Blickkontakt mit ihrem Neugeborenen aufnehmen wollen.“ Für den Aussenstehenden wird diese spielerisch-dialogische Begegnung noch deutlicher, wenn das Kind im Alter von zwei Monaten im Kontakt zu lächeln beginnt, die kindlichen Laute nuancenreicher werden, Wohlbehagen und Freude sowie Ärger und Spannung unterscheidbarer werden lassen, die Bewegungen immer zielgerichteter werden. Die Mutter (oder der Vater) nimmt die Gesten und Laute des Kindes auf, wiederholt diese variierend. Kind und Bezugsperson stellen sich dabei in ihrer Körpermotorik und Lautbildung so aufeinander ein wie zwei, „die gemeinsam freudig tanzen“ oder im Duett singen. Die Eltern geben auch Laute des Entzückens von sich, wenn das Kind etwas entdeckt und sein Interesse daran bekundet. Das Kind nimmt die Klapper, fuchtelt mit den Ärmchen, steckt die Klapper in den Mund, wirft sie weg, weist in die Richtung des entschwundenen Gegenstandes, möchte diesen wiederhaben. Die Mutter überreicht ihn mit einem lächelnden „Bitteschön...“ und bringt damit auch schon in dieser frühen Phase den Handlungsdialog zur Sprache.

Wesentlich ist an dieser leibhaftigen oder affektu-sensomotorischen Basisidentität - so Martin Dornes - die „Selbstkohärenz. Es entsteht das Gefühl, eine zusammenhängende physische Einheit zu sein, die der Ort und Sitz von Handlungen und Empfinden ist.“ Bemerkenswert erscheint, dass dieser Begriff von Selbstkohärenz durchaus einen Teilaspekt des Kohärenzgefühles des Erwachsenen - so wie dieses bei Antonovsky zu verstehen ist - widerspiegelt.
Das von der leibhaftigen Basisidentität unterscheidbare „verbale Selbstempfinden“ auf dem Wege zu einer narrativen Identität beginnt dann mit 15 bis 18 Monaten. Die narrative Identität ist nie abgeschlossen, ist sozusagen eine unendliche Geschichte. In dem verbalen Selbstempfinden entdecken die Kinder, „dass sie persönliches Wissen und Erfahrungen haben, die sie mit Hilfe von Symbolen kommunizieren können.“

Hierzu ein kleines Beispiel:

Mit dem Umzug in die neue Wohnung steht der Familie auch ein grosser Garten zur Verfügung, durch den bald ein junges Entenpärchen - auf dem Wochenmarkt erstanden - zur Freude aller schnattert. Jan hat mit seinen 21 Monaten einen besonderen Spass an den Enten. Er beobachtet und füttert sie; gelegentlich scheucht er sie durch den Garten. Die Enten sind aber schneller als der Jan. Schnatternd und mit den Flügel schlagend flüchten sie in ihre Behausung - eine Kiste mit Schlupfloch. Eines Tages kriecht der Jan in einen seitlich umgekippten Umzugskarton, kommt dann schnatternd und die Ärmchen wie Flügel schlagend aus diesem wieder hervor und plappert fröhlich: „Du - Ente...“. Die Eltern sind entzückt und schauen sich zugleich etwas verdutzt an, bis sie bemerken, dass das „Du“ für Jan oder Ich steht, da der Jan stets nur mit „Du“ oder „Jan“ angeredet worden ist und er seine Identität  verbal ebenso erfasst.

Während sich im frühkindlichen Spiel zunächst schwerpunktmässig die affektu-sensomotorische Basisidentität herausbildet, entfaltet sich im Sprach-Dialog das verbale Selbstempfinden hin zur narrativen Identität.

„Ich bin jetzt so schnell und unangreifbar wie eine Ente“ wurde von Jan zu Beginn der kleinen Episode spielerisch-handelnd dargestellt und damit zugleich in seiner affektu-sensomotorischen Bedeutung für die Identität vergegenwärtigt. In der sprachlich-symbolischen Mitteilung zeigt sich das verbale Selbstempfinden, wie dies aus den vorausgegangenen dialogischen Ansprachen heraus entstanden ist:
„Du - Ente“ noch anstatt „ich - Ente“.
Die Wahrnehmung dieser Mitteilung, die Anerkennung und das Entzücken der Eltern festigte diesen Identitätsaspekt einer gewandten und unangreifbaren Ente.

Natürlich bekam die „Ente“ auch Futter in Form von Keksstückchen vor ihren „Stall“ gestreut . In dieser Situation entfalteten sich sowohl spielerisch-handelnd als auch dialogisch-sprachlich Intermediärräume. Aus diesen Intermediärräumen ging der Jan mit dem gefestigten Selbstempfinden hervor, schnell und gewitzt wie eine Ente zu sein. Und bald konnte er auch „Ich“ und „Du“ grammatikalisch richtig verwenden. Die elterliche Identität hingegen war um die Freude über den Entwicklungsschritt ihres Kindes mit dieser schöpferischen Transferleistung erweitert.

Es eröffnen sich mit dem verbalen Selbstempfinden dialogisch-sprachliche Intermediärräume. Diese ähneln in ihrer Struktur und Funktion durchaus den bekannten - Winnicottschen - Spiel-Intermediärräumen zwischen Phantasie einerseits und der äusseren Realität andererseits.

Im Dialograum, dem Zwischen-Raum, der mich mit meinem Dialogpartner verbindet, treffe ich zunächst mit meiner inneren Realität auf die äussere Realität meines Gegenübers. Im Gespräch erfahre ich dann auch etwas von der inneren Welt meines Dialogpartners, was meine innere Welt erweitern kann. Und umgekehrt. Wir können uns im Gespräch - wie im spielerisch-schöpferischen Gestalten - vertiefen, „verlieren“, gehen dabei jedoch nicht unserer Identität verlustig. Im Gegenteil. Über den Intermediärraum, der sich dialogisch öffnet, wird unsere Identität bereichert. Dialogisch-spielerische Intermediärräume sind Räume wechselseitiger Wahrnehmung und Anerkennung.

Die Intensität und Art der mütterlichen/väterlichen Wahrnehmung als kommunikatives Handeln in diesem Prozess, aber auch die geschwisterliche Wahrnehmung und die der peer-group sind dabei bedeutsam. Kann ich in diesem Wechselspiel von Darstellung und Wahrnehmung eine sichere Identität entfalten, kann ich mich also in meiner Identität darstellen und werde darin gesehen und akzeptiert, dann kann ich auch die Identität, die Individualität, die Eigenheit und den Standpunkt, die Kultur und die Hautfarbe des anderen akzeptierend wahrnehmen. Friedensfähigkeit auf dem Boden eines starken Kohärenzgefühles infolge einer sicheren Identität ist mit Gesundheit vergeschwistert.

So etwas kann auch im Kunstunterricht umgesetzt werden:

  • Schüler eines dritten Jahrganges verzauberten entlang des Eindruckes eines Bildes von Kandinsky etliche Bierdeckel zu „quadratischen Kreisen“, die sie dann zu einem grossen Gesamtbild zusammenstellten. Die Einzelidentität der Bierdeckel ging dabei nicht verloren, sondern war in dem Gesamtwerk durchaus im Hegel’schen Sinne gut aufgehoben.

  • Das gleiche Prinzip galt für die Gemeinschaftsproduktion eines Blumenbildes auf einer 1 m x 1 m grossen Leinwand. Thema war ein Blumenfeld (im Zusammenhang  mit der van Gogh Ausstellung in Bremen). Die Schüler eines zweiten Schuljahres entdeckten rasch, dass ihre Blume, wenn sie jeweils als Einzelblume auf der grossen Leinwand geblieben wäre, lange nicht so gut gewirkt hätte wie mit all den anderen Blumen zusammen. Jeder Schüler/jede Schülerin konnte die Produktionen der anderen gut tolerieren, musste diese nicht zur Seite drängen, übermalen, ausschalten.

Blumenfeld (Gemeinschaftsarbeit) (kleine Version)

Gruppe beim Betrachten (kleine Version)

Ich zeige Ihnen zunächst die Gemeinschaftsproduktion „Blumenfeld“. Auf dem zweiten Bild sehen Sie, mit welcher Freude sich die Schüler mit dieser Produktion identifizierten. Über die schöpferische Gemeinschaftsproduktion stellte sich ein Kohärenzgefühl der Gruppe ein. Das Kohärenzgefühl der Gruppe ist ein entscheidendes Moment auch für die Stärke des Kohärenzgefühles des jeweils einzelnen aus dieser Gruppe. Das Kohärenzgefühl der Gruppe meint: gemeinsam werden wir die Welt verstehen, meistern, gemeinsam finden wir einen Sinn. Ein Kohärenzgefühl in der Gruppe finden Sie bei Pippi Langstrumpf und ihren Freunden, bei Huckleberry Finn und Momo. Und bei den Bremer Stadtmusikanten.

Bei den eben vorgestellten Gemeinschaftsproduktionen, d.h. dem Bild mit dem „quadratischen Kreisen“ sowie den „Blumenfeld“-Bild konnte die Identität des jeweils anderen gut ausgehalten werden. Ebenso auch in dem Spiel „ich seh mal was, was Du nicht siehst“. Ist aber meine Identität unsicher, weil ich mich in meinem Eigen-Sinn nicht habe ausreichend darstellen können oder ich bei meinen Versuchen nicht akzeptierende Wahrnehmung, sondern nur Nichtbeachtung oder Entwertung erfahren habe, wird mich eine deutlich andere, sprich fremde Identität, verunsichern. Und habe ich in meinen Eigen-Darstellungsweisen vorwiegend nur negative Wahrnehmung wie Beschämung und Verachtung erfahren, dann kann ich eine fremde Identität noch schlechter aushalten. Ich werde meine daraus resultierende Selbstverachtung auf den Fremden projizieren, um ihn dann mit dem Baseballschläger niederzuschlagen. Aber auch dieser spätere Eigen-Darstellungsmodus, eher schon Überlebensmodus, stellt sehr oft eine verzweifelte Alternative gegen Suizid und Sucht dar. Selbstverachtung ist rauschmittellöslich. Ob der Eigen-Darstellungsmodus von Identität kreativ wie bei Huck Finn und Pippi Langstrumpf erscheint oder auf Dauer selbstzerstörerisch wie bei Agnes noch vor der Therapie, bzw. alternativ dazu fremdzerstörerisch wie bei den Skinheads, hängt also davon ab, ob die Eigendarstellung überwiegend mit einem Minimum an Wohlwollen oder mit Beschämung und Verachtung verknüpft und wahrgenommen worden ist.

Hier sind die Chancen einer schöpferischen Erziehung, aber auch die Risiken einer fehlgeleiteten Leistungsorientierung in den schöpferischen Fächern. Denken Sie an das Eingangsbeispiel: Was wäre geschehen, wenn die Lehrerin die Bilder nicht beschrieben, sondern kritisiert und lächerlich gemacht hätte? Sie wissen aus eigener Erfahrung heraus genau, was da passiert. Stellen Sie sich vor, ich würde Sie bitten hier nach vorne zu kommen und ein Selbstbildnis zu malen, ein Lied zu singen („Geh aus mein Herz“) und zum krönenden Abschluss noch einen Purzelbaum zu schlagen... Das, was Sie dann überwiegend verspüren würden, wäre vermutlich ein deutliches Schamgefühl - Narben unserer schulischen Sozialisation. Und Beschämung geht, sofern sie nur oft genug erfolgt, unmerklich in Selbstverachtung über. Das hat eine wichtige Konsequenz. Nämlich, Notenfreiheit in den schöpferischen Fächern mindestens während der gesamten Grundschulzeit.

Je mehr Beschämung und Selbstverachtung verinnerlicht wurde, desto mehr zeigen sich in einem zunächst bloss provozierenden Eigen-Darstellungsmodus später dann auch destruktive Elemente zur Identitätssicherung: Die so schön provozierenden, am Hintern herunterhängenden Hosen oder die je nach Zeitläufen glatzenkurz bzw. extrem lang gehaltenen und dann noch eingefärbten Haare provozieren Affekte, sind aber nicht primär destruktiv, weil reversibel. Hosen zieht man gewöhnlich wieder aus und Haare wachsen nach. Haare wie Hosen sind ein prima Gesprächsthema, sind als Eigen-Darstellungsmodus immer noch dialogisch als kommunikatives Handeln angelegt: Leck mich am Arsch...

Anders hingegen das Graffiti, das zwar auf einer öden Betonwand berechtigten Protest signalisieren mag, auch witzig und ästhetisch gelungen erscheinen kann. Dennoch impliziert es auf der frisch gestrichenen Wand des klassizistischen Schlosses wie an des Bürgers reinlicher Hauswand ein destruktives Element, nämlich die schlichte Sachbeschädigung. Und das Graffiti ist nicht unmittelbar dialogisch angelegt. Der Produzent bleibt anonym.

Problematisch erscheinen auch Extrempiercing und Flächen-Tatoo als irreversible Eigen-Darstellungsmodi. Diese sind zwar nicht anonym angelegt, die Selbstbeschädigung ist aber oft doch sehr deutlich und geht in der Regel mit einer erheblichen Selbstwertproblematik einher.

Der ästhetisch-mimetische Prozess ist aber nicht nur durch Nichtbeachtung, Benotung und Beschämung störbar, sondern auch durch weltanschaulich transportierte Missverständnisse. Hierfür ein Beispiel:

Die Kinder eines dritten Schuljahres haben im Kunstunterricht Schmetterlinge gemalt - Schmetterlinge, denen man das „Schmetterlingshafte“ so richtig schön ansehen kann. „Aber für mich ist das gar kein richtiger Schmetterling“, meldet sich eine kritische Lehrerin: „der hat ja zwei verschiedene Flügel!“ Stimmt - so gesehen. Trotzdem vermittelt das Bild ganz viel von dem, was einen Schmetterling auszumachen  scheint.

Schmetterling (kleine Version)

Dieser Widerspruch in den Sichtweisen und Meinungen ist fast zweieinhalb Jahrtausende alt. Für Platon (427-347 v. Chr.) galt ein Bild nur etwas, wenn der auf ihm abgebildete Gegenstand möglichst naturgetreu dargestellt war. Allerdings vermittelte ein Bild für ihn grundsätzlich nur eine Wirklichkeit „dritter Klasse“. Hingegen bezeichnete er das unmittelbar mit unseren Sinnen Wahrgenommene als eine Wirklichkeit „zweiter Klasse“.

Die Wirklichkeit „erster Klasse“ (die Welt der „Ideen“) liegt bei Platon jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und ist uns nur gedanklich über ein inneres Schauen zugänglich. Die unmittelbar mit unseren Sinnen erfahrbare Welt als Wirklichkeit zweiter Klasse stellt eine unzuverlässige, trügerisch-täuschende Abbildung dieser Wirklichkeit erster Klasse dar. Und ein Bild ist dann eine noch fragwürdigere Nachahmung dieser sowieso schon unzuverlässigen Abbildung der „wahren“ Wirklichkeit. Der Schatten eines Schatten!

Aristoteles (383-322 v. Chr.) hat diese platonische Ansicht vom Kopf auf die Füsse gestellt. Die Freude an der Nachahmung der mit den Sinnen erfahrbaren Wirklichkeit als schöpferischen Akt beschreibt Aristoteles als ursprüngliche Freude des Menschen. Diese könne man besonders gut bei Kindern wahrnehmen und rühre daher, dass über eine nachahmende Darstellung, zum Beispiel auch ein Bild, etwas wiedererkannt werden könne. Aber das Wiederkennen beziehe sich nicht auf den Grad der Übereinstimmung von Ur-Bild und Abbild. Vielmehr bedeutet dieses „Wiedererkennen, dass man das Gesehene auf das Bleibende, Wesentliche hin sieht, das von den kontingenten (zufälligen, E.S.) Umständen des Einmal-gesehen-Habens und des Wieder-gesehen-Habens nicht mehr getrübt ist“, so Hans-Georg Gadamer. „Was(...) sichtbar wird, ist also gerade das eigentliche Wesen...“ In unserem Fall ist das „Schmetterlingshafte“ damit gemeint.

In der schöpferischen Darstellung, gleich ob Erzählung, Schauspiel, Tanz, Bild, Musik, entbirgt sich also gerade die - nach Plato nur in der inneren Anschauung erfahrbare - „Wirklichkeit erster Klasse“.

Über das Wiedererkennen im schöpferischen Handeln wird nicht nur „das Allgemeine sichtbar“, als die „bleibende Gestalt“. Sondern im Erkennen des Wesenhaften „liegt auch, dass man sich in gewissem Sinne selber mit erkennt“ - so Gadamer weiter. Die Schmetterlingsdarstellung spiegelt das Sehen, die Bewegung und das Bewegtsein unserer jungen Malerin wider. Und natürlich auch Bewegung als das Wesenhafte des Schmetterlings... „Alle Wiedererkennung ist Erfahrung steigender Vertrautheit, und alle unsere Welterfahrungen sind letzten Endes Formen, in denen wir die Vertrautheit mit dieser Welt aufbauen“ - so noch einmal Hans-Georg Gadamer.

Die „Vertrautheit mit der Welt“, die in der Begegnung mit dem Wesenhaften in der schöpferischen Darstellung sich entfaltet, ist immer da zu spüren, wo Kinder ihren schöpferischen Eigen-Sinn zeigen dürfen. In solch einer Prozess-Orientierung, die das Ergebnis, das Produkt nicht unbeachtet lässt, aber nicht als das allein entscheidende Kriterium ansieht, öffnen sich die Intermediärräume für das Spiel und den Dialog. Und die „Vertrautheit mit der Welt“, die dabei entsteht, ähnelt in verblüffend vielen Aspekten dem Kohärenzgefühl. So erweist sich die Freude am schöpferischen Gestalten erneut als salutogenetisch bedeutsam.

Vertrautheit mit der Welt steht polar zu dem Fremden - dem mir nicht Vertrauten. Verfüge ich über eine sichere Identität, kann ich dem, was sich mir als fremd darstellt, dialogisch wahrnehmend begegnen. Ich entdecke in dem Fremden vielleicht Strukturen, Ordnungen und Gestaltungsprinzipien, die mir bereits vertraut erscheinen mögen, grundsätzlich kann ich aber das Fremde auf dem Hintergrund einer sicheren Identität erst einmal als Fremdes gelten lassen, ohne es zwangsweise eingemeinden oder ausstossen, abwehren bzw. zerstören zu müssen. Wir sprachen anfangs bereits darüber. Ob ich fremd erscheinender Kunst, fremden Menschen oder z.B. in meiner eigenen Therapie mir selbst befremdlichen Eigenschaften begegne, macht fast keinen Unterschied. Entscheidend ist, ob ich in dem mimetisch-ästhetischen Prozess der Annäherung an das Fremde dialogisch-kommunikativ handelnd voranschreite oder okkupatorisch. Und wenn kein äusserer Dialog möglich ist, einen inneren Dialog dabei erlebe. Für Letzteres ein Beispiel:

Die Kinder eines dritten Schuljahres näherten sich einem fremden Bild - und für die meisten auch einer ungewohnten Darstellungsweise - ebenfalls dialogisch an. Es ging dabei um das Bild „Himmelsleiter“ von Miro, das die Kinder zunächst im Unterricht betrachteten, um sich dann - von dem Bild inspiriert - ihrer eigenen produktiven Antwort zu diesem Bild zuzuwenden. Zwei Antworten aus dem Angesprochen-worden-sein, die Darstellung des Eigenen nach der Wahrnehmung des Fremden habe ich Ihnen mitgebracht (Folien). Die eigenen Antworten ermöglichten den Kindern eine akzeptierende und vorurteilsfreie Begegnung mit der klassischen modernen Kunst. Und die Eltern staunten, wenn die Kinder in einem Möbelgeschäft oder an anderer Stelle plötzlich riefen: „Guck mal, da ist ja ein Bild von Miro!“

Die Begegnung mit dem Fremden über das bildnerische Gestalten hiess für meinen Patienten Andreas Begegnung mit den eigenen abgewehrten verletzbaren Persönlichkeitsanteilen, Begegnung mit seinen Sehnsüchten und Träumen.

Andreas, gerade 18 Jahre alt, als er bei uns stationär aufgenommen wird, hat mit Brandstiftungen bereits 2,5 Millionen DM Schaden angerichtet. Auch der Vater war Brandstifter. „Ein richtiger Feuerteufel, der Angst und Schrecken verbreitet hat ...“ Als Andreas davon erzählt, klingt doch etwas Stolz in seiner Stimme mit. Ansonsten ist Andreas auf sich selbst wenig stolz. Als Kleinkind bereits im Heim. Zunehmende Schulschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten mit Beginn der Vorpubertät. Als seine erste wesentliche Partnerschaft nach Monaten Knall auf Fall von der Freundin beendet wird, kommt es zur ersten Brandstiftung. Es hätte aber auch jeder andere Anlass dazu führen können, wenn er nur kränkend genug gewesen wäre.

In den Gesprächen zeigt sich die zwiespältige Einstellung, die Andreas zu den Brandstiftungen hat. Auf der einen Seite sieht er schon das Elend, das er damit angerichtet hat, auch, dass er mit 2,5 Millionen Mark Schulden sozusagen sozialen Selbstmord begangen hat, auf der anderen Seite war es doch eine Inszenierung von Grandiosität und Allmacht. Faszinierend als Urheber von Entsetzen dazustehen. Dieses Erleben stand gegen Elendigkeits- und Identitätsauflösungsgefühle sowie gegen den Selbsthass, den Andreas in sich verspürte.

Andreas hat in der Therapie viel gemalt. Indem er seine Tagträume und Sehn-süchte grafisch darstellen konnte, geschah etwas ganz Wesentliches: nämlich die Wandlung vom ohnmachterleidenden Objekt zum selbstgestaltenden Subjekt.

In dieser Wandlung erlebte er sich nicht mehr als ohnmächtig und entwertet, sondern sein Selbstgefühl veränderte sich, indem er selber etwas gestaltete und herstellte. Gleichzeitig wurde über dieses schöpferisches Gestalten das, was er als entwertenden Stachel erlebte, nämlich die Meinung nichts zu taugen, nach draussen gebracht. Er zog das, was ihn quälte aus seiner Identität heraus, stellte es vor sich hin, konnte es besser betrachten und auch verändern.

Er war dann gegenüber seinen Motiven, die er sich selbst so vor Augen führte, nicht mehr blind, er konnte sie distanziert kritisch betrachten. Deutlich wurde auch seine Sehnsucht endlich “jemand zu sein“, eine Identität und Orientierung zu haben, einen Leuchtturm zu entdecken, der ihm den Weg ins Leben weist. (Bilder!)

Entlang der Begriffe Wahrnehmung und Darstellung des Wesentlichen, Identität als Grundlage einen starken Kohärenzgefühles sowie Vertrautheit mit der Welt versus Begegnung mit dem Fremden und schliesslich Wandlung des erleidenden Objektes in ein selbstgestaltendes Subjekt, haben wir uns in den Intermediärräumen umgesehen. Aus diesen Intermediärräumen speist sich das schöpferische Vermögen des Menschen, seine Gesundheit sowie seine soziale Kompetenz. (Folie). Eines haben wir uns bislang dabei aber nicht angesehen, nämlich dass dieses schöpferische Vermögen, so der Religionsphilosoph Georg Picht, das „unheimlichste von allen menschlichen Vermögen“ darstellt.

Picht vertritt die These, dass die 2000 Jahre Stagnation im Denken zwischen Aristoteles und Aufklärung im Hinblick auf das schöpferische Vermögen zu den Schwierigkeiten geführt hätten, die die Technik der Gegenwart von der Atomkernspaltung bis zur Zellkernspaltung mit sich bringe.

Die eben beschriebene zunächst hilfreiche Wandlung vom bloss erleidenden Objekt zum selber gestaltenden Menschen hat in diesem Zusammenhang nämlich auch eine Kehrseite. Und die ist zerstörerisch und betäubend.

Das schöpferische Vermögen wird heute allgemein als Kreativität bezeichnet. Kreativität wird leider auch im Zusammenhang mit der Wandlung vom erleidenden zum selbstgestaltenden Menschen, der die Natur beherrschen will, gleichgesetzt mit Handeln-müssen. Es gibt eine inflationistische Flucht in die Kreativität. Verloren geht dabei das Verweilen-können, das interesselose Wohlgefallen, die schöpferische Pause, die dem Ästhetischen bei Kant noch eingewoben sind.

Die Kreativität als „unheimlichstes und tiefstes Vermögen“ etwas hervorzubringen, bedarf allgemein also auch der schöpferischen Pause zum Betrachten, zur Wahrnehmung und zur Reflexion, um nicht zerstörerisch mit permanenten Produktionen jeglicher Art die Welt zu überfluten.

Zwischen Handeln und Verweilen, zwischen äusserer und innerer Produktion hin- und herschwingen können, dabei ggf. auch auf das Handeln verzichten können, Entwürfe ausschliesslich im Bereich der Phantasie entstehen und vergehen zu lassen, dafür gibt es heute allerdings kaum noch Freiräume. Eben dieser Freiraum hiess bei Schiller noch „ästhetischer Zustand“. Und kennzeichnend ist für den ästhetischen Zustand die Wahrnehmung selbst sowie die Reflexion dessen, was ich wahrgenommen habe, d.h. der gelegentliche Schritte zurück von dem Objekt meines Interesses zur umfassenden Betrachtung, dem Verweilen in der Stille. Und eben das ist es, was den hyperaktiven Kindern unserer Zeit so fehlt.

Wir stehen heute vor dem Paradox, dass zwar die Kindersterblichkeit in den letzten 100 Jahren deutlich zurückgegangen ist, unsere Kinder aber nicht gesünder, sondern immer mehr an Allergien, Asthma, Essstörungen, Süchten, Verhaltensauffälligkeiten, aggressiven Durchbrüchen und Hyperaktivität leiden. Um so bedeutsamer sind Anstrengungen, über eine gelingende ästhetische Er-ziehung, die den reflektierten schöpferischen Prozess ebenso mit einschliesst wie eine Reflexion des Produktes, den gesundheitsförderlichen Defiziten unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen. Die Malschule Emden hat hier Beispielhaftes geleistet. Auch hierzu nochmals meinen Glückwunsch. Ich seh Dich - das freut mich...

Und ich danke Ihnen für Ihre aufmerksame Wahrnehmung.

Diskussion

  • JDH: Ab wann ist der Mensch gefeit, gegen den Zerfall des Koharenzgefühls, wann ist er gesund genug, dass er nicht mehr bedroht ist?
     
  • ES: Antonovsky, sozusagen der Erstbeschreiber der Koharenzgefühles war da eher pessimistisch. Seine Antwort wäre die, dass grundsätzlich jeder Mensch im Koharenzgefühl zerstörbar ist, wenn die Erfahrungen nur negativ genug sind. Allerdings die Frage ist, bleibt dieser Mensch isoliert. Auch die Menschen, die das Entsetzen von KZs durchlebt haben, haben es ja z.T. in der Gruppe durchleben können und wie gesagt 30% von ihnen hatten dieses Koharenzgefühl. Und man kann sich ja kaum ein entsetzlicheres Geschehen vorstellen, als das Konzentrationslager. Aber man muss schon sagen, dass es keinen Menschen gibt, der nicht in irgendeiner Form zerstörbar ist, wenn das Entsetzen auf ihn nur lange genug einwirkt. Aber man kann schon sagen, ich denke dass da das KZ ein ganz schreckliches Beispiel war wieviel Belastung auf einen Menschen einstürzen kann, dass es Menschen gibt, die das Glück hatten, ein Koharenzgefühl zu entwickeln, dass diesen massiven Anforderungen widerstand. Ihre Frage war, wann ist es soweit. Das lässt sich nicht beantworten, dafür gibt es keine objektiven Marken, genausowenig wie es für Gesundheit objektive Marken gibt. Aids Kinder aus Südamerika haben z.B. so etwas wie Gesundheit, wie Sinnhaftigkeit, das erste Mal erlebt, als sie in dem Heim waren, in dem sie dann auch nach wenigen Monaten gestorben sind, die waren dort angenommen, wahrgenommen und haben sich gesund gefühlt. Im nahenden Tod schon, das Leben noch erfahren.
     
  • Entscheidend ist, wie lange ich mit meiner Sinngebung in dieser Situation mich selber als jemand begreife, mit dem nicht nur irgendetwas gemacht wird, sondern indem ich Beziehungen zu anderen aufnehmen kann, in dem ich mich in einem sozialen Kontext eingebunden weiss. Das sind sehr subjektive Momente. Wir können aber sagen, je mehr wir an Ressourcen bereitstellen, desto eher haben wir die Chancen, dass unsere Kinder, unsere Patienten, unsere Schüler, ein stabiles Koharenzgefühl entwickeln. Und das ist jetzt eine positive Aussage von Antonovsky:
  • Je mehr Freiräume bereitgestellt werden, in denen sich eine Stabilität entwickeln kann, desto grösser sind die Chancen, dass die Kinder ein gutes und ein starkes Koharenzgefühl entwickeln. Absolute Marken gibt es –ich hätte fast gesagt Gott sei dank – nicht.
     
  • Publikum: Das heisst doch, das der Bedarf sehr gross ist, denn sie haben ja so wenig Freiräume, unsere Kinder.
     
  • ES: Genau und deswegen ist es wichtig, dass es exemplarisch Freiräume gibt und das diese Freiräume eine Provokation darstellen auch an anderer Stelle solche Freiräume einzurichten. Das sind Malschule, die Aktion Spielmobil oder in Bremen die Institution StadtLandschaften für Kinder oder Spielorte für Kinder, das es solche Einrichtungen gibt, die nicht nur vor sich hin brödeln, sondern die das, was an diesen Orten geschieht nach aussen bringen, darstellen und für andere wahrnehmbar werden lassen. Und eine Provokation in diesem Sinne darstellen, es kann auch an andere Stelle sich so etwas ereignen. Und da spricht ja auch die Geschichte der Malschule wie ich es vorhin gehört habe, Bände dafür, dass diese Ideen exportiert wurden und eine intensive Kommunikation mit den unterschiedlichsten Orten stattfindet.
     
  • Und genau das ist ja eigentlich der Impuls, der nach draussen geht und der für ein starkes Koharenzgefühl, auch dieser Institutionen Malschule spricht. Dass auch in diesem Team der Malschule sich ein Gruppenkoharenzgefühl etabliert hat.
     
  • OB Brinkmann:  Ich bin ein bisschen pessimistisch, dass wir für unsere Kinder das herstellen können, wenn wir das als Erwachsene nicht selber hinkriegen können.
     
  • Ein Beispiel aus Emden: wir haben die soziale Stadt Barenburg. Der Presse ist zu entnehmen, dass das soziale bisher erstmal so geschah, dass da Strassen und Häuser hergestellt wurden und dass das Menschliche bisher schwieriger herzustellen und zu finanzieren ist und ich denke, wenn wir als politisch denkende Erwachsene diese Freiräume nicht auch uns nehmen, dann haben es unsere Kinder auch schwerer.
     
  • ES: Ja, Erwachsene haben es immer schwieriger, wenn sie aus ihren alten Gleisen heraus wollen, neue Verhaltensmuster produzieren wollen. Ich bin jetzt über das, was Sie geschildert haben nicht informiert, ich kann mir aber schon vorstellen, wie etwas misslingt. Dafür gibt es viele schlechte Gründe. Dennoch bin ich ganz unverfroren. Es ist so ähnlich, wie mit dem Umweltgedanken. Dass wir für unsere seelische Innenwelt genauso auch sorgen müssen. Je früher wir damit im Sinne einer Salutogenese und auch Prävention, dass wir dann doch den Gedanken weitertragen können – unbeschadet der Rückschläge und Niederlagen, die wir an anderer Stelle erleiden. Es kann natürlich sein, dass wir immer das Ziel verfehlen, aber es gibt dann auch wieder überzeugende Augenblicke und aus denen können wir Mut schöpfen, um es immer wieder auch neu zu versuchen und es gerade an der Stelle auch darstellen und laut werden und Verbündete suchen. Das ist für das Koharenzgefühl ganz wichtig, dass ich jemanden habe, mit dem ich in einen Dialog treten kann, mit dem ich meine Enttäuschungen dialogisch teilen kann, geteiltes Leid ist halbes Leid“! Über solche Netzwerke etabliert sich eine Kraft, die langfristig verändert wirkt. Da bin ich eher optimistisch gestimmt, obwohl es sicherlich auch zu meiner Berufskategorie gehört, dass ich sage, nagut, auch wenn alles durchhängt, wir wollen es versuchen. So dass Motto der Bremer Stadtmusikanten: Zieh mit uns mit, sagte der Hund zu dem Esel, etwas besseres als den Tod findest du allemal. Aus dieser Situation heraus, es immer wieder ausprobieren und wenn es gelingt, den Schnabel aufmachen!!
     
  • Engelbert Sommer: Der Stadtteil Barenburg hatte vor vier Jahren eine Theaterwerkstatt, die hiess „Die Achterbahn“ und da waren Kinder aus Barenburg, die haben drei vier Produktionen gemacht und die haben sich da sehr wohl gefühlt. Und das nächste Projekt ist auch schon angesagt, im Herbst wollen wir ein Theaterstück machen und im Mai aufführen wenn das neue Kommunikationszentrum im Bunker eröffnet wird. Das heisst, die Malschule ist auch in solchen Stadtteilen aktiv, die normalerweise nicht in die Malschule kommen.
     
  • Publikum: Am liebsten hätte ich ja gerne ein paar Tipps als Mutter, wie ich meinem Kind dieses Koharenzgefühl nicht zerstöre durch unbedachte Handlungen. Wenn es im Alltag ein Bild gemalt hat, sich gut gefühlt und plötzlich zerstöre ich das alles, ohne das ich es will. Da hätte ich ganz gerne so einen Leitfaden, ich weiss natürlich dass es das nicht gibt.
     
  • ES:  (lacht) Wenn Sie noch ein halbes Stündchen mehr Zeit gehabt hätten, hätte ich Ihnen gerne noch ein paar Tipps mitgebracht. Ein guter Tipp ist zum Beispiel die Situation um die Gute Nacht Geschichte herum. Das ist mein Lieblingsrezept. Was sie in der Situation herstellen können ist eine Annäherung an das Kind. Das ist ein geschützter Raum, in dem Bilder aufsteigen. Wenn einer erzählt und der andere hört zu, dann entstehen innere Bilder. Und mit diesen gemeinsamen inneren Bildern stellen Sie eine Beziehung her und sind ganz dicht an dem Kind dran und das Kind kann über die inneren Bilder auch das zur Sprache bringen, was es belastet, was es stört, was es gerne hat. Über solche geschützten Räume der Einstimmung – man kann sich auch in anderer Art und Weise einstimmen, aber das ist so ein Ding: 20 Minuten blödes RTL weniger (...) in dieser Situation erfahren sie ganz viel über das Kind. Was ihr Kind belastet und auch was ihre Beziehung belasten könnte. Und sie tun in der Situation unglaublich viel für das Koharenzgefühl des Kindes. Das wäre so eine Möglichkeit.
     
  • Oder: Die sozialromantische Einrichtung des gemeinsamen Essens und kein Medium dabei, was dazwischen piept und quakt, von 18.00 bis 20.00 Uhr das Fernsehen ausschalten. Allein die Struktur der bewegten Bilder frisst Aufmerksamkeit. 60% der Erwachsenenaufmerksamkeit wird gefressen, egal ob Sie meinen hinzusehen oder nicht. Und Kinder, wenn sie sich nicht wahrgenommen fühlen oder mit 40% wahrgenommen fühlen, die sind wahrnehmungsmässig unterversorgt. Die machen mitunter viel Randale und hampeln und zappeln um wahrgenommen zu werden. Oder sie verstummen. Deswegen: Medium ausschalten, insbesonder die, die mit bewegten Bildern operieren.
     
  • Publikum: Ich würde gerne wissen, wann dieses Gefühl „Ich bin mein Bild“ aufhört. Oder ich bin mein kreativer Prozess.
     
  • ES: Es hört gottseidank nie auf, aber der Schritt ist leichter nach der Pubertät. Das ich so etwas Abstand bekomme, von dem, was ich geschaffen hab. Dass ich es zur Diskussion stellen kann, dass ich darüber sprechen kann. Es geht immer noch unter die Haut, wir reagieren nie so ganz gelassen. Aber so ein bisschen Abstand, so ein bisschen zurücktreten, das ist dann, wenn unsere eigene Identitätsbildung die Krise der Pubertät überwunden hat und –was man früher so Adoleszentenzeit nannte, wenn die letzten Hirnverbindungen hersgestellt sind, die differenziertes Denken und Selbstkritik ermöglichen. Auch das ist erst mit 18, bei manchen jungen Herren erst mit 20 abgeschlossen. Dann können wir das, was Sie eben nachgefragt haben, uns so ein bisschen von unseren schöpferischen Produktionen distanzieren.
     
  • JDH: Wir sprechen vom Koharenzgefühl des Einzelnen. Aber sie haben auch das Koharenzgefühl der Gruppe angesprochen. Wenn man die Gesellschaft als Gruppe sieht: was ist der elementarste Fehler, den unsere Gesellschaft macht, um das Koharenzgefühl einer Gruppe zu vermeiden oder zu zerstören. Was passiert da, was meinen Sie?
     
  • ES: Das ist natürlich eine Examensfrage! Was zerstört das Koharenzgefühl unserer Gesellschaft! Das in zwei Sätzen...
     
  • Wenn der Dialog nicht mehr stattfindet. Die Partikularisierung unserer Gesellschaft, die Anonymität, die Medien. Die Medien haben auch ihre Vorteile. Aber wenn die Medien so gehandhabt werden, dass Kommunikation nur noch parallel erfolgt und nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, dann wird das Koharenzgefühl der Gruppe zerstört.
     
  • Und die auseinanderdriftenden Kommunikations- und Interaktions-weisen, die Wohnungen, die isoliert sind. Die Familien, die verkleinert werden. Die Familienmitglieder, die nicht mehr miteinander sprechen. Die Dissoziazion des Dialoges und der Interaktion ist das eine Moment. Und das andere ist, die Konkurrenz-ideologie.
     
  • Im Grunde der Kapitalismus, jeder ist der Erste, der Beste, der Schnellste. Jeder hat seinen Hundertausend Dollar Scheck, aber nur wenn er der Schnellste ist. Jeder ist des anderen Konkurrent. Deswegen Koharenz heisst ja fairplay. Den anderen sich nach seinen Möglichkeiten entfalten lassen. Konkurrenzgesellschaft meint, den anderen ausschalten. Nicht fairplay sondern match. “Boris Becker hat Michael Stich im zweiten Satz ausgeschaltet“, diese Sprache ist verräterisch. Ihre Frage: Dissoziazion des Dialoges und des Lebensstiles und die Konkurrenz zerstört das Koharenzgefühl der Gruppe.
     
  • JDH: Das ist ein Programm für die nächsten Jahrzehnte!